
Da ist zum Beispiel Michael. Michael ist 48 Jahre alt und sieht aus wie Robert Atzorn mit 38. Als Michael dreizehn war, bekam er im Beisein seiner Mutter, die sofort in Tränen ausbrach, welche über Wochen nicht versiegen sollten, die Diagnose Diabetes mellitus. Mit vierzehn nahm Michael an, nie erwachsen zu werden. Mit siebzehn ließ er sich an einen anderen Arzt überweisen, einen jungen Burschen mit dem Auftreten eines Börsenhändlers, der ihm sagte, eine Diabeteserkrankung sei „heutzutage längst kein Beinbruch mehr“ – keine glückliche Formulierung, wie Michael fand, ein Beinbruch wäre ihm weitaus lieber gewesen. Seit 2010 ist Michael Inhaber einer W3-Professur an einer Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Er erfreut sich bester Gesundheit.
Michael beginnt den Tag mit einem Stück „saftigem Zitronen-Rührkuchen mit dekorativer Fettglasur“, so steht’s auf der Verpackung. Der Kuchen enthält Weizenmehl, Zucker, pflanzliche Fette (Palm), Hühnervollei, Glukose-Fruktose-Sirup, Milchzucker, Alkohol, Backtriebmittel (Diphosphate, Natriumcarbonate), Säuerungsmittel (Citronensäure), Salz, Stärke (Weizen), Emulgatoren (Mono- und Diglyceride von Speisefettsäuren), Lecithine, Sorbitantristearat (Zitronenöl), färbendes Pflanzenextrakt (Curcuma) und Aroma. Nährwerte müssen auf der Verpackung angegeben werden, das verlangt der Gesetzgeber, doch wirkt das Wort Nährwert hier wie Hohn und Spott: pro 100 Gramm 51 Gramm Kohlenhydrate, davon 30 Gramm Zucker. Um den geht es Michael. Anzunehmen ist, dass es sich bei den Zutaten um genau den „Müll“ handelt, „den wir Tag für Tag gedankenlos in uns hineinstopfen“, wie Sarah Wiener es im Februar 2016 im Neo Magazin royale zu Jan Böhmermann sagte, kurz bevor sie Böhmermann mit sanftem Druck zwang, einem – naturgemäß bereits toten – Schwein das Ohr abzuschneiden.
Strenges Zuckerverbot, eindimensionale Diätpläne, im Supermarkt immer gleich durch bis zur Diabetikerecke ganz hinten links, dorthin, wo alles von der Schokolade bis zum Schmelzkäse weiß eingepackt ist – Humbug, sagt Michael, für ihn zumindest, zum Glück, es gehe darum, sich ausgewogen zu ernähren, das zu essen, was einem gut tue, sich wohlzufühlen. Man entwickle als Diabetiker ein sehr gutes Gespür für den eigenen Körper und sicherlich habe er persönlich mit seiner leichten Form der Diabetes auch Glück, er kenne ganz andere Fälle. Ein Kollege am Institut nenne ihn immer etwas spöttisch Dorian, in Anspielung auf Dorian Gray, doch er, Michael, frage sich, wo das Bild stehe, das statt seiner verfalle. Die große, finale Diabetesrechnung seines Körpers erwarte er inzwischen nicht mehr, oder, drastischer formuliert: Er könne sich für sich selbst inzwischen auch andere Todesursachen denken als seine Diabetes, wobei das am Ende ja meist schwierig sei mit den Schuldzuweisungen, das eine führe oft zum anderen. Die längste Zeit habe er zwar in äußerer Gelassenheit, jedoch in innerer Angststarre mehr gewartet als gelebt, trotz der nie wirklich spürbaren Einschränkungen, die die Erkrankung in vielen anderen Fällen mit sich bringe.
Wer einen ganzen Arbeitstag mit Michael verbringt, zum Beispiel in Form eines berufsbedingten Work Shadowing, sieht in der Zwanghaftigkeit und auch Eile, mit der er die kleinen Rituale vollführt, die seine Zuckerkrankheit in Schach halten sollen und seit über dreißig Jahren in Schach halten, eine Parallele zu der 22-jährigen Studentin Helene, Michaels zweiter Sprechstundenbesucherin an diesem Dienstagmorgen, die sich mit konzentriertem Blick auf das Smartphone noch einmal schnell die Lippen nachzieht, an einer Augenbraue zupft, einen Schmollmund macht, während Michael gerade ein kurzes Telefonat beendet. Der Hauptunterschied liegt darin, dass Michaels Rituale lebenswichtig sind, Helenes nicht. Sein Angebot, während der Besprechung, in der es um eine von ihr anzufertigende Seminararbeit gehen soll, zum Kaffee („Oder Tee?“) doch ruhig ein Stück Kuchen zu essen, lehnt sie fast empört ab. Obwohl Michael selbst ein paar Tage zuvor in gespielter Bescheidenheit einmal laut den Verdacht geäußert hatte, seine Sprechstunden seien vermutlich nicht wegen seiner fachlichen Expertise so gut besucht, sondern wegen des wöchentlich wechselnden Kuchenangebots; für nächste Woche habe er schon Marmorkuchen gekauft.
“Ich bin ja nur Typ 1”
Nach dem Mittagessen – in der Mensa gab es versalzene Lasagne, dazu ein Glas Apfelsaft – sticht sich Michael routiniert mit einem kleinen, unscheinbaren Gerät in den Zeigefinger und guckt auf das Minidisplay. Die vorsichtige Frage des Besuchers, ob er über all die Jahre nicht ein gutes Gefühl für seinen jeweiligen Blutzuckerspiegel entwickelt habe, ob er das Gerät also wirklich brauche, beantwortet Michael knapp mit „Nein“. Warum er sich dann überhaupt in den Finger steche, will der Besucher wissen. „Die Wissenschaftsgläubigkeit des Wissenschaftlers ist es wohl“, sagt Michael, „oder vielleicht auch nur eine Angewohnheit. Aber immerhin geht’s um mein Leben.“
Die nachmittägliche Insulinspritze setzt er sich mit der Beiläufigkeit des Arztes, der seit Jahren nichts anderes tut: Er dreht sich ein wenig in Richtung Fenster, zieht das Hemd aus der Hose, hebt mit der freien Hand eine Hautfalte ab (Michael ist schlank, fast athletisch) und sticht senkrecht in diese Hautfalte hinein, bis die Nadel ganz verschwunden ist. Vollkommen normal für ihn, einigermaßen schockierend jedoch für den Besucher, der bisher noch bei jeder Blutabnahme ohnmächtig geworden ist, ja, fast schon bei der Anmeldung zum Erste-Hilfe-Auffrischungskurs umkippt.
Am Nachmittag isst Michael zwei weitere, diesmal allerdings sehr schmale Scheiben saftigen Zitronen-Rührkuchens mit dekorativer Fettglasur. Abends wolle er mit seiner Ex-Frau noch selbstgemachte Pizza essen und ein Glas Rotwein trinken, „nichts aus der Diabetikerecke, aber ich bin ja auch nur Typ 1“, sagt er, und wendet sich den E-Mails zu. Ob – man geht offen miteinander um – bei seinen W3-Bezügen netto nicht ein Betrag übrig bleibe, der den Kauf von Biokuchen mit weniger oder gar keinen Emulgatoren, Phosphaten und Carbonaten ermögliche, dafür aber mit Eiern von glücklichen Hühnern, will der Besucher zum Abschluss des Tages wissen. Michael, der im Zweifingersystem konzentriert auf seine Tastatur einhackt, verspricht darüber nachzudenken.
Zu Risiken und Nebenwirkungen von Fertigkuchen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.
Krank, aber Kuchen
Wenn der Diabetiker vom Typ I nicht regelmäßig Kohlenhydrate nachschiebt, droht ihm durch sein künstliches Insulin ein hypoglykämischer Schock. Das ist kein Kinderspiel, man kann daran sterben.
Die Erkrankung heißt "Diabetes mellitus", wie richtig erwähnt. Die Endung "-us" des Adjektivs.
…”mellitus” bedeutet, daß der Begriff “männlichen” Geschlechts ist. Also: “Der Diabetes” und nicht “die Diabetes”. Ansonsten ist gegen den Artikel nichts einzuwenden außer daß der Unterschied zwischen “Typ I” und “Typ II” nicht erklärt wird und daß dies aber zwei sehr verschiedene Erkrankungen sind, mit denen man auch sehr verschieden umgehen muß. Die Gemeinsamkeit liegt allein darin, daß bei Beiden man (unbehandelt) einen sehr hohen Blutzuckerspiegel erreicht, so hoch, daß der Zucker durch die Niere mit in den Urin ausgeschieden wird, woran man früher (Geruch, Geschmack) die Krankheit diagnostizierte und ihr den Namen gab, welcher “honigsüßer Durchtritt” bedeutet.
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“…pro 100 Gramm 51 Gramm Kohlenhydrate, davon 30 Gramm Zucker. Um den geht es Michael…” Falsch! Michael geht es um die 51 Gramm Kohlenhydrate, die seinen Blutzuckerspiegel ohne Insulin in die Höhe treiben.
Danke. Das war dann offenbar etwas missverständlich formuliert (“missverständlich” hier vielleicht sogar als Euphemismus für “falsch”).
Gerald Wenge
Zu Risiken und Nebenwirkungen von Fertigkuchen,,,,,,
Wenn die dargestellte Kalorienbombe, nach Fertigkuchen sieht die nicht die Bohne aus, geschmacklich das hält, was sie optisch verspricht, dann rein damit. Was ich immer wieder lachhaft finde ist, bei Bio den Preis anzuführen. Generell, das Leben ist zu kurz und Wohlbefinden zu fragil, um sich mit billigem Fertigkuchen und sonstigem Fertigzeugs abzuspeisen. Igitigitt
Wahre Worte. Und ein entlarvend genauer Blick auf das Foto.
Gerald Wenge
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Mein Gott, ich bin zwar kein Diabetiker, wie viele Millionen andere Menschen auch, esse ich aber trotzdem keinen Zucker und Kuchen, mir geht es viel besser ohne, danke.
Sie sagen es – nur schaffen muss man das.
Gerald Wenge