
Sie haben eine Verabredung beim Italiener. Wie alle, die Sympathien füreinander hegen, freuen Sie beide sich über jede Gemeinsamkeit, die Sie entdecken, wie die Vorliebe für denselben Wein oder die Begeisterung für einen bestimmten Film. Doch dann erleben Sie eine böse Überraschung. Ihr Schwarm kippt eine halbe Flasche Tabasco über die Pizza Arrabbiata, bietet Ihnen dann ein getränktes Stück an und zählt enthusiastisch die Chili-Gerichte seines Lieblings-Mexikaners auf, die Sie “demnächst unbedingt probieren müssen”. Eigentlich waren Sie bis zu diesem Moment ganz zufrieden mit der Wahl des Restaurants, und die Spaghetti Carbonara auf Ihrem Teller entsprechen genau Ihrem Geschmack. Zum Nachtisch wollten Sie gerade Ihr Lieblingsdessert Panna cotta bestellen, doch die Aussicht, zukünftig scharf gewürzte Speisen zu teilen, verdirbt Ihnen den Appetit. Was, wenn Ihr Unbehagen beim Entdecken der gegensätzlichen Nahrungsvorlieben nicht ganz grundlos ist ?
“Weil das, was ich esse, was ich trinke, selbst mein ›zweites Ich‹, . . . meines Wesens ist”, wie Ludwig Feuerbach schrieb. Was das für die Einschätzung Ihres Gegenübers bedeutet? Chili-Esser sind Abenteurer. Zu diesem Ergebnis kamen Paul Rozin und Deborah Schiller von der University of Pennsylvania, nachdem sie die erste systematische Untersuchung zum Chilikonsum ausgewertet hatten. So gelte beispielsweise in Mexiko Chiliverzehr als Ausdruck von Stärke, Wagemut und maskulinen Eigenschaften. Amerikanische Studenten mit einer Vorliebe für Chilis hatten gleichzeitig ein Faible für waghalsige und tendenziell selbstgefährdende Aktivitäten wie schnelles Fahren, Fallschirmspringen oder Eisbaden.
Jede dieser Erfahrungen kostet anfangs Überwindung, doch genauso wie beim Chilikonsum lernt man mit der Zeit die Gefahr einzuschätzen. “Das kalkulierbare Risiko ist möglicherweise das, was Chilis für manche so aufregend macht”, resümiert Paul Rozin. Schärfe ist keine Geschmacksrichtung, nicht süß, salzig, bitter, sauer oder umami. Scharf bedeutet Schmerz, weshalb Sie als vorsichtiger Typ vor dem angebotenen Stück Pizza reflexartig zurückweichen. Die typische Schmerzreaktion wird ausgelöst, sobald der Inhaltsstoff Capsaicin auf die Schmerzrezeptoren der Zunge trifft. Träfe er auf die Augen oder die empfindliche Schleimhaut der Nase, wie es bei capsaicinhaltigem Pfefferspray der Fall ist, würden wir uns schreiend krümmen. Was bringt also jemanden dazu, einen extrem empfindlichen Körperteil wie die Zunge mit einer chemischen Waffe zu malträtieren und zu Produkten mit den Bezeichnungen Painmaker, Schwarze Witwe, Mega Death Sauce (Feel Alive !), Pain 85 %, 95 %, 100 % zu greifen? Was hier nach Death Metal klingt, sind handelsübliche Chilisaucen. (Nachtrag: auf die Menschen aus Mexiko freilich anders reagieren als jemand, der in einem Schweizer Bergdorf mit viel Bircher Müsli aufwächst).
Wenn eine negative körperliche Erfahrung (beschleunigter Puls, Schwitzen, Brennen, tränende Augen, Atemnot) Genuss hervorruft, hat das laut Rozin masochistische Züge. Er vergleicht es mit einem Horrorfilm, bei dem wir reale Angst spüren, doch wissen, dass uns nichts passieren kann. Im Tierreich sucht man dergleichen vergeblich. Selbst Schweine, die sich normalerweise auf alles Essbare stürzen (und wenn sie im mexikanischen Hochland leben, an scharfe Essensreste gewöhnt sein sollten), machen um Tortillas mit scharfer Sauce einen großen Bogen. Sie können ja nicht ahnen, dass das Hitzeempfinden nicht »real«, sondern eine irrtümliche Reaktion des Gehirns ist. Wir dagegen wissen, dass Chilis uns nicht innerlich verbrennen. Unser Intellekt ermöglicht es, uns in begrenztem Umfang über das Warnsignal hinwegzusetzen. “Sozusagen aus sicherer Distanz triumphieren wir über einen Urinstinkt und bekommen dafür aus unserem Belohnungszentrum im Gehirn einen biochemischen Drops in Form eines Schusses Endorphine”, schreibt der Mediziner Harro Albrecht in seinem Buch “Schmerz: Eine Befreiungsgeschichte”. Dasselbe ist übrigens beim sogenannten Runners High von Marathonläufern der Fall.
Ist es Neugier oder rasch empfundener Überdruss?
Chili-Liebhaber sind (freilich nicht alle!) experimentierbereit, risikofreudig, hungrig nach Abwechslung, starken Gefühlen und Abenteuern, alles typische Eigenschaften für sogenannte Sensation Seeker. Positiv formuliert sind das Menschen mit einem hohen Maß an Neugier – weniger freundlich ausgedrückt, solche mit rasch empfundenem Überdruss. Mit diesem Wissen dürften bei einem sicherheitsorientierten Gegenüber die Alarmglocken schrillen.
Wer Aufregung meidet, Beständigkeit schätzt und sehr gut ohne Extremsituationen auskommt, dürfte in Zukunft genauer auf die Vorliebe einer neuen Bekanntschaft für scharfe Gewürze achten. Auch wenn Chilis ebenfalls als gesundheitsfördernd gelten und den Stoffwechsel ankurbeln sowie schmerzstillende und antibakterielle Wirkung entfalten. So weit, so gut, doch welcher Charakter verbirgt sich eigentlich hinter denjenigen, die gerne zu süßen Speisen greifen? Ihre Verabredung kann sich gar nicht glücklich genug schätzen, Sie an ihrer Seite zu haben. Wer gerne Süßes mag, gilt als ausgesprochen hilfsbereit und sozial (ein “Sweetheart” eben). Die Bereitschaft, einem Menschen in Not zu helfen, ist Experimenten zufolge bei denjenigen besonders ausgeprägt, die statt zu einem salzigen Kräcker zu einem Stück Schokolade greifen. Süßes lindert außerdem die Symptome von Chilikonsum, besonders wenn es sich um Milchspeisen wie Panna cotta, Mascarpone oder sahnige Desserts handelt, deren Fett das Capsaicin bindet. Leitungswasser verteilt es lediglich und verstärkt das Brennen.
Fazit: Wohldosiert sind Chilis mehr als ein kulinarisches Ausnahmeerlebnis. Doch bevor Sie es auf einen Versuch ankommen lassen, sorgen Sie für einen großen Vorrat an Milchspeisen.
zum Buch:
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/die-kunst-des-klugen-essens/978-3-446-44875-9/
Hut, antiker.
Ein wenig googlen bringt eine Veröffentlichung von Rozin und Schiller im Springer Verlag hervor: The nature and acquisition of a preference for chili pepper by humans, March 1980, Volume 4, Issue 1, pp 77-101
Der Repetitionszyklus, eine ältere Modeerscheinung, Nachricht, Veröffentlichung o.ä. als letzten Schrei zu verkaufen, liegt so bei um die 30 Jahre, gefühlt.
Paßt also.
Ein wenig googeln fördert übrigens auch zu Tage, dass Rozin nach dieser Studie nicht aufgehört hat, sich mit dem Thema zu beschäftigen…. Sonst würden wir hier gar nicht drüber schreiben. (Stichwort Gastro-Psychology) und, als Ergänzung aus dem im Text zitierten Buch (2015) noch eine Geschichte zur Chili-Verwendung: “Chili ist unter traditionellen Heilern bereits seit langem als Schmerzlöser gebräuchlich. In Indien wird Chili-Tee als Analgetikum bei Zahnschmerzen geschlürft, und nordamerikanische Ureinwohner rieben sich in solchen Fällen das Zahnfleisch mit Chilischoten ein. das Capsaicin löst zunächst brennende Schmerzen aus, doch danach verstummt der überreizte Nerv für eine Weile, was den Schmerz lindert”. Auch dafür ist Chili eben gut.
Eigenanbau.
Ich baue seit Jahren verschiedene Chilisorten in grossen Töpfen an. An der Sonnenwand des Hauses gedeihen sie prächtig, und einige Sorten überwintern sogar im Haus…Mit Blaukorn gedüngt, treiben sie wieder wunderbar aus…Seit 2 Wochen werden die Ersten des Jahres in Speisen verwendet…Hoch lebe die Chilifrucht!
Oh, das funktioniert? Was brauchen Chilis um zu gedeihen?
Wie der Unterschied zwischen Mexiko und USA zeigt,
hat die Vorliebe für Chili durchaus verschiedene Konnotationen. Dabei ist noch nicht einmal ein Kausalzusammenhang nachgewiesen. Ich kenne viele Leute, die essen gern scharf (hängt auch von der Kultur ab, in der man aufwächst, und wie die Vorliebe für scharfe Küche in manchen Ländern zeigt, beginnt sie nachgewiesenermaßen schon im Mutterleib). Ich kenne viele Leute, die essen gern süß. Und ich kenne viele Leute, die essen gern scharf UND süß (nicht nur hintereinander, sondern auch gleichzeitig: Chili-Schokolade und anderes). Mein Mann gehört dazu – seit Jahrzehnten. Ist er jetzt hilfsbereit oder risikogierig? Oder beides? Oder was? Mir scheint das in den Bereich der Hausmeisterpsychologie zu gehören.
Es geht hier nicht um schwarz weiß – sondern um die Forschung eines renommierten Psychologen. Ich persönliche esse nicht so gerne scharf, mag aber trotzdem das Risiko! Ich kenne indes auch einige, die scharf essen (und süß) und sich gern Gefahrensituationen aussetzen. Die Probanden von Rozin stammten ja aus Nordamerika, wären sie aus Mexiko, sähe die Sache natürlich ganz anders aus, was sich (kulturelle Prägung, Sozialisation) von selbst versteht.
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Die Abenteuerlust des Chiliessers sehe ich in einer Kathegorie mit Zeitschriftenhoroskopen. Daß Jugendliche mit dem Genuß besonders scharfer Speisen protzen, um ihre Männlichkeit zu beweisen dürfte jedoch nicht nur in Mexico vorkommen.
Wer sich an Schärfe von Pfeffer, Peperoni oder Meerrettich gewöhnt hat, öffnet seinen Geschmackssinnen neue Horizonte. Ein Schuß Tabasco am langweiligen Eintopf kann neue Nuancen in den Vordergrund bringen, die man dort zu finden nicht hoffen durfte. – Gerade Tabasco ist ein hochartifizielles Produkt, das jahrelang in Holzfässern reifen mußte, um die milde Schärfe zu ermöglichen, die ihn auszeichnet. Nicht nur kurious ist die Erscheinung, daß ein thailändisches Essen mit jedem Gang an anderer Stelle brennen kann.
Aber auch bei scharfen Speisen gilt, wie für alle guten Sachen, den Geschmack muß man sich erarbeiten. Wer erstmalig in seinem Leben einen Grand Cru trinkt, wird ihn einfach für sauren Wein halten und sein Sodbrennen mit einer Cola bekämpfen… Kleiner Tip: Mir hilft gegen Sodbrennen ein Teelöffel roter Tabasco pur geschluckt.
Absolut, Geschmack ist erlernbar! Hier kommt de Mere-Exposure-Effekt ins Spiel: mit der Darbietungshäufigkeit einer Speise tritt ein Gewöhnungseffekt ein. Kaffee war mir lange Zeit zu bitter, jetzt liebe ich ihn zwar immer noch nicht, mag ihn aber. Was die Vorliebe für scharfes Essen betrifft ist die Forschung von Paul Rozin dennoch hoch spannend und nicht auf Zeitschriftenhoroskopniveau!
Die Autorin ist wohl noch nie in Südasien gewesen?
Da gehört scharfe Essen zur absoluten Volksküche, wohl noch mehr als in Lateinamerika. Die Charakter-These geht dort völlig baden.
Fazit: hört sich unterhaltsam an, ist aber wohl nett aufbereiteter Unsinn. Tabasco, Chillies, das hat klar ein eigenes Aroma. Man muss das nicht mögen, aber soziale Vorurteile dagegen muss man auch nicht entwickeln.
Und ja, ich esse gern scharf.
Doch, dort war sie, oft sogar! Die Forschung von Paul Rotin indes ist trotzdem hochinteressant und freilich nicht auf Länder übertragbar, wo Kinder quasi mit scharfen Speisen aufwachsen! Es geht auch hier immer nur um Tendenzen. Ich selbst zum Beispiel mag es nicht so gerne scharf, bin aber dennoch eine Abenteurerin:) zwei Freunde hingegen würzen wie verrückt und riskieren auch privat gern Kopf und Kragen. Das sind Anekdoten – und Rozin hat eben schlicht untersucht, ob sich unter Menschen, die sehr gern scharf essen, besonders viele befinden, die gleichzeitig zum Risiko neigen: seine Antwort: ja!