
„Gehen wir doch wieder in die Pilze!“ Meine Mutter ist eine Fanatikerin. Besessen von Wald, frischer Luft und Pilzen. Und ich fürchte ihr Einfluss auf mich war prägend. Kürzlich habe ich einen gut achthundert Gramm schweren Steinpilz gefunden. Einfach so, ohne dass ich danach gesucht hätte. Ich trug ihn mehrere Kilometer durch den Wald. Ein Passant meinte, von weitem hätte er wie eine Torte ausgesehen.
Nun bin ich im Sammelfieber. Wie jedes Jahr im Herbst. Obwohl ich, mit wenigen Ausnahmen, gar keine Pilze esse. Nicht mehr. Eine schlimme Geschichte. Ich war ungefähr zehn Jahre alt. Den ganzen Nachmittag waren wir im Wald und hatten körbeweise Pilze gesammelt. Maronen, Rotkappen, Steinpilze, Pfifferlinge, Perlpilze, Hexenröhrlinge und ein paar exotische Einzelfunde. Meine Mutter kannte alle Pilze beim Namen. Während wir sie säuberten, erklärte sie mir Unterscheidungsmerkmale und Vorzüge der einzelnen Sorte. Ich mochte Pilze und beeilte mich den Teller leer zu essen, damit ich noch eine zweite Portion abbekam. Im Gegenteil zu meinem Vater. Der ließ sich, zumindest wenn es Pilzpfanne gab, reichlich Zeit, bestrich zunächst ein Brot mit Butter, salzte es seelenruhig, stocherte mit prüfendem Blick auf dem Teller herum, bis er schließlich probierte. An jenem Abend legte er nach ein paar Bissen vehement die Gabel zur Seite: „Da stimmt irgendwas nicht.“ Ich war wie gelähmt vor Schreck. Mein Herz begann zu rasen. Mir wurde schwindelig. Meine Mutter schüttelte nur den Kopf und kaute unbekümmert weiter. Meine Augen blieben an den Pilzbüchern auf dem Regal haften, ich kannte sie in und auswendig. Besonders die Seiten mit den Giftpilzen. Über Vergiftungserscheinungen war ich bestens informiert. Nur, sämtliche davon spürte ich jetzt am eigenen Leib. Das Ticken der Uhr über dem Küchentisch mahnte an die gebotene Eile.
Meine Gedanken rasten, wer würde uns finden? Sollten wir nicht sicherheitshalber alle sofort zum Arzt? Ich jammerte über Bauchschmerzen. Mein Vater war aschfahl. Schließlich räumte meine Mutter einen Fehler ein. Ihr sei wohl ein junger Bitterling untergekommen. Der Bitterling sieht dem Steinpilz zum Verwechseln ähnlich. Er ist im Grunde harmlos. Mit seinen Bitterstoffen verdirbt er allerdings jede Pilzpfanne. Es dauerte eine gute halbe Stunde bis meine „Vergiftungserscheinungen“ nachließen. An diesem Abend hatte ich Mühe einzuschlafen. Ich war euphorisch. Obwohl ich in keinem Augenblick in wirklicher Gefahr schwebte, ist mein Appetit auf Pilze seitdem gedrosselt. Was mich jedoch nicht davon abhält, welche zu suchen. Im letzten Herbst fand ich Unmengen von Hexenröhrlingen. Die sind essbar, laufen aber an der Schnittstelle blau an. Ein Unding für mich, sie zu essen. Alfred Hitchcock servierte seinen Gästen einst blaues Fleisch und blauen Brokkoli. Er hatte die Speisen mit harmloser Lebensmittelfarbe eingefärbt. Trotz dieser Kenntnis wurde den Gästen in der Nacht darauf speiübel. Die Hexenröhrlinge verschenkte ich jedenfalls an einen dankbaren Nachbarn. Ein anderes Mal, ich war gerade schwanger, fanden wir unglaublich viele Perlpilze. Am nächsten Morgen war mir sehr übel, wahrscheinlich die Schwangerschaft, trotzdem schwor ich mir diese Sorte von Pilzen ab. Ein klassischer Fall des „Sauce Béarnaise Syndroms“ eben. Der Psychologe Martin Seligman hatte einst am eigenen Leib erfahren, dass sich Geschmacksaversionen tief in unser Gedächtnis einprägen. Geht es uns nach dem Genuss von Speisen schlecht, entwickeln wir eine heftige Abneigung dagegen, selbst dann, wenn die Übelkeit andere Gründe als die vermeintlich ungenießbare Speise hat. Für unser Gehirn ist es eine reine Vorsichtsmaßnahme, die uns zukünftig vor den Folgen schädigender Nahrung schützt. „Der Geschmack einer Speise, die bereits ein halbes Leben lang ohne unangenehmes Nachspiel verzehrt wurde, ist offenbar ziemlich immun gegen die gelernte Aversion“, so Seligman. Dessen Auslöser für die Abneigung gegen Sauce Béarnaise war übrigens eine Magen-Darm-Grippe.
Die einzigen Pilze, die ich (noch) bedenkenlos esse, sind jene die ich zuvor auf dem Markt gekauft habe. Die Tatsache, dass ich dafür viel Geld ausgebe, machen sie zu einem sicheren Lebensmittel für mich. Neulich sah ich jemanden zwei große Gemüsestiegen voller Steinpilze ins Auto hieven. Der glückliche Sammler war auf dem Weg zu meinem Lieblings-Italiener, wo er sie gegen Bares eintauschen wollte. Es ist paradox, aber während ich meinem Mann dabei zuschaute, wie er den “Torten” Fund allein verspeiste, würde ich ohne mit der Wimper zu zucken die Steinpilz Tagliatelle beim Italiener bestellen.
Was das „Sauce Béarnaise Syndrom“ betrifft, hilft nur eine positive Gegenkonditionierung. Nur womit? Fliegenpilze, las ich einmal, sollen ja einen regelrechten Euphorie-Rausch auslösen. Angeblich waren sie im Sibirien des 18. und 19. Jahrhunderts eine Modedroge. Oliver Goldsmith berichtete von Festen, bei denen von einem Sud aus Fliegenpilzen gekostet wurde. „Wenn die hohen Damen und Herren versammelt sind”, so Goldsmith, “macht der Pilzsud seine Runde. Sie beginnen zu lachen, erzählen Unsinn, werden zunehmend beschwipst und somit zu ausgezeichneten Gesellschaftern.” Andererseits, und vielleicht ist das mein Glück, in Bezug auf Pilze bin ich skeptisch.
zum Buch:
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/die-kunst-des-klugen-essens/978-3-446-44875-9/
James Bond: Sag niemals nie...
obwohl, falls unser Gehirn ein Evolutionsabbild des Urknallpilzes…
Atompilze?…im Fleischkleid…Fleisch geworden ist, haben Sie,
unter Wahrnehmung des Gegenwartgeschehen, wohl recht…
Zu viele schwer erkennbare Giftpilze zwischen…