
Wer je die Mini-Bar eines Hotelzimmers geplündert hat, weiß, dass das Auschecken peinlich werden kann. Eine Freundin, nennen wir sie K., übernachtete unlängst in einem nicht ganz günstigen Hotel. Sie war mit einem Mann verabredet und wie früher mit 15 ein klein wenig aufgeregt, weshalb sie, bevor sie aufbrach, einen Blick in die Mini-Bar warf. So ein Gläschen Wein, dachte sie, wäre jetzt gut. Sie trank also den Wein (0,3 Liter). Sie trank auch einen Gin Tonic und einen Baileys auf Eis. Dummerweise war sie, die selten Alkohol trinkt, nun nicht nur von ihrer Nervosität befreit, sie war auch leicht berauscht. Ihre Verabredung bekam davon später höchstwahrscheinlich nichts mit, wobei man das ja nie so genau sagen kann, weil man in einem solchen Zustand die dahingeplapperten Dummheiten sofort wieder vergisst. Wie glasig die eigenen Augen sind, sieht man nicht. Ganz zu schweigen von den fahrigen Bewegungen. Am nächsten Morgen jedenfalls trank sie (“Brand”) noch einen Apfelsaft und ein absurd teures, nach Brause schmeckendes Vitaminwasser. Als die Rezeptionistin sie beim Begleichen der Rechnung freundlich fragte: “Kommt noch etwas aus der Mini-Bar dazu?” zählte sie die Drinks auf. Sie lachte und sagte, “hab ich natürlich nicht alle alleine getrunken!” Die Rezeptionistin lachte auch.
Ich empfahl meiner Freundin als Entlastungslektüre das Buch “Die trinkende Frau” von Elisabeth Raether. Bei den kurzen, amüsanten, klugen Texten, die teilweise als Kolumnen in der “Zeit” erschienen sind, handelt es sich nicht um ein Plädoyer für ungezügelten Alkoholkonsum, sondern um eins für mehr Genuss. Und Gelassenheit. “Die trinkende Frau” ist ein Anti-Optimierungsbuch. Spaß ohne Reue, Averna statt grüner Smoothie. Nach wie vor irritieren ja Frauen, die ab und an mal ein paar Drinks nehmen. Männer nehmen Drinks. Frauen nippen an ihrer Weinschorle und bewahren Haltung. Für sie gelten bekanntlich andere Regeln als für Männer, nämlich strengere. Überall würden Drinks gegendert, so Raether. “Fast jede Kultur unterscheidet in männliche und weibliche Getränke”, wobei weibliche Drinks immer schwächer, süßer, weicher und nicht so rein seien. “Praktischerweise kann man diese Zuschreibungen dann gleich für die Frauen selbst verwenden.”
Ein Kapitel trägt den Titel “Schüchtern sein”. Bei diesem Kapitel dachte ich an meine Freundin K., die zwar niemand für schüchtern hält, doch es sieht eben auch niemand ihren inneren Kampf. Schüchternsein sei altmodisch, schreibt Raether. “Als würde man in einer Pferdekutsche durch die Stadt fahren. Es ist schließlich das Zeitalter, das keine Scheu kennt.” Zurückhaltung gelte geradezu als weibliches Wesensmerkmal. “Diese Bescheidenheit im Auftreten wird auch allseits bewundert – wie angenehm, so wenig Testosteron, so wenig Ego.” Freilich ist Elisabeth Raether, die immer noch schüchtern ist, klar, dass man nicht ständig angeschickert sein kann. (K. weiß das auch, trotzdem belustigt sie diese Vorstellung.) “Wenn jemand eine Kamera auf mich richtet, drehe ich mich weg wie ein sechsjähriges Mädchen. Aber peinliche Momente sammle ich inzwischen wie Trophäen, weil sie zeigen, dass ich etwas riskiert habe”. Da dachte ich wieder an K. Denn genau darum geht es doch im Leben: etwas zu riskieren.
Das Buch
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/die-kunst-des-klugen-essens/978-3-446-44875-9/