
Das Meeting war für neun Uhr morgens angesetzt. Peter reiste mit dem Auto an. Auf dem Beifahrersitz lag eine lindgrüne runde Dose. Durch den milchigen Plastikdeckel ließen sich Farben erahnen, rot, gelb, orange, grün – Farben von Paprika, Karotten, Papaya, Gurke und Sellerie. In einer weiteren Dose, einer etwas kleineren Kopie der ersten, waren Mandeln und ein Stück Nusskuchen. Peters Frühstück. Er solle auf seine Gesundheit achten, meinte der Arzt. Weniger Zucker, Kaffee in Maßen, mehr Gemüse.
Zu seiner Überraschung waren sämtliche Kollegen schon eingetroffen. Jemand hatte vom Bahnhofsbäcker Berliner mitgebracht und spendierte eine Runde. Peter lehnte dankend ab, obschon er kurz zögerte. Aus den Berlinern quoll eine Cremefüllung. Er dachte an den Inhalt in seiner Vorratsdose. Wahrscheinlich wäre es einfacher, im Frankfurter Westend zu koksen, als in Mörfelden Karotten zu frühstücken. Jansen von der IT-Abteilung verwickelte ihn in ein Gespräch. In seinem Bart klebte noch Zucker vom Berliner. Peter trat von einem Bein aufs andere. Seit sechzehn Stunden hatte er nichts mehr gegessen. Sybille aus dem Fitnessstudio, die neuerdings auch Ernährungsberatung machte, meinte, Intervallfasten sei ein alltagstauglicher Kompromiss zum richtigen Fasten. Sie sprach von einem verbesserten Zucker- und Fettstoffwechsel und heilsamen biochemischen Veränderungen im Körper. Ihm war flau im Magen. Er deutete auf seinen Laptop. Mit der Begründung, er müsse Mails checken, wandte er sich von Jansen ab und setzte sich an einen freien Tisch in der Nähe zum Fenster. Die Dosen legte er neben sich auf einen Stuhl. Möglichst unauffällig öffnete er den Deckel der kleineren, griff sich eine Mandel und schob sie in den Mund. Dann noch eine und noch eine. Bis es Zeit wurde, den Kollegen in den Meetingraum zu folgen. Er klappte seinen Laptop zu und klemmte ihn unter den Arm. Ratlos schaute er auf die beiden Dosen in seiner freien Hand. Weil ihm kein besseres Versteck einfiel, packte er sie kurzerhand in die Mikrowelle neben dem Kaffeeautomaten.
Eine Viertelstunde und eine halbe Tasse Kaffee später meldete sich der Hunger zurück. Mit einem entschuldigenden Lächeln in die Runde verließ er den Raum, lief zur Mikrowelle und nahm die größere der beiden Dosen heraus, stopfte Papaya in sich hinein, dann ein paar Scheiben Gurke und hinterher noch ein Stück Karotte, das er kaute, während er sich im Bad die Hände wusch. Vorsorglich spülte er den Mund mit Leitungswasser aus und hielt dem Spiegel die entblößten Zähne entgegen.
Von seiner Rückkehr in den Raum nahm kaum einer Notiz. Er bedauerte, nicht wenigstens noch von dem Kuchen probiert zu haben und sann nach einer Ausrede, ein zweites Mal zu verschwinden. Nach etwa einer halben Stunde blitzte die Batterieanzeige seines Notebooks auf, was ihn ungemein freute, denn das Ladekabel war im Auto. Auf dem Weg dorthin vergewisserte er sich, dass niemand ihn beobachtete, nahm die Dosen aus der Mikrowelle und trug sie dicht am Körper zum Parkplatz. Das Dach seines Wagens glitzerte in der Sonne, wie eine Fata Morgana, oder eine Rettungsinsel für ausgestoßene Veganer – er musste lachen über diesen Vergleich. Eine unerklärliche Heiterkeit machte sich in ihm breit. Er ließ sich auf den Fahrersitz fallen und verdrückte in Windeseile etwas Kuchen und ein paar Nüsse, biss noch einmal ein Stück Karotte, schob Paprika und Gurke hinterher, als ausgerechnet auf dem Parkplatz neben ihm ein verspäteter Kollege einfuhr. Er beugte sich nach unten, traute sich aber nicht, das rohe Gemüse kopfüber zu schlucken. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte er wieder auf. Etappenweise würgte er den Inhalt in seinem Mund herunter, griff zum Ladekabel und lief zurück zum Gebäude.
Mittags einigten sich die Kollegen auf Pizzadienst. Der Bestellzettel wanderte reihum, er tat, als sei er in sein Smartphone vertieft und ließ den Zettel an sich vorüber gehen. Der Chef bestellte als Einziger Salat, mit der Begründung er sei abends zum Essen eingeladen. Peter nuschelte etwas wie „ich auch“, obwohl es gar nicht stimmte, und bestellte ebenfalls Salat. Die Pizzen waren groß und duftend, die Salate klein. Er verfolgte ein mit Sardellen belegtes Dreieck, bis es vollständig in Jansens Mund verschwand. Müde fischte er zwei Würfel Käse aus dem Salat. Er war wütend, abwechselnd auf sich selbst, dann auf Sybille. Kompromisse waren was für Paartherapeuten, er für seinen Teil hatte genug davon. Er wollte essen, kompromisslos. Heute Abend würde er zu Toni gehen und sich den Bauch voll schlagen, Pizza mit Sardellen und Vitello Tonnato oder ein saftiges Steak.
zum Buch:
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