Autobahnraststätte – hätte das Wort einen Geruch, er bestünde vor allem aus ranzigem Fett, Benzin und Automatenkaffee. Fernfahrer können einem leid tun, Pendler auch und dienstreisende Handelsvertreter sowieso. Heiße Würstchen, Cervelatwurst auf blassem Baguette und schlappe Salatblätter machen weder richtig satt, noch in irgendeiner Hinsicht glücklich.
Freilich, es gibt Alternativen. Der Feinschmecker empfiehlt beispielsweise „20 lohnenswerte Landgasthäuser“ und wirbt mit Wohlfühlgerichten, Aromenküche oder Steak-Adressen. Im Schnitt sind diese Adressen zehn Kilometer von der Autobahn entfernt. Das ist ein scheinbar „kleiner Umweg“ zum Sattessen. Nur, wer von der Autobahn runter fährt, muss auch irgendwann wieder drauf. Je ländlicher die Gegend, desto wahrscheinlicher, dass ein landwirtschaftliches Betriebsfahrzeug in Schrittgeschwindigkeit ausgerechnet dann vor dem eigenen Auto fährt, wenn die Zeit drängt. Oder sämtliche Badegäste des nahegelegenen Sees gleichzeitig die Rückfahrt antreten und die Autobahnauffahrt blockieren. Auch schon erlebt: alle Ampeln, die stadteinwärts auf grün standen, schalten stadtauswärts stur auf Rot. ALLE. Autobahnraststättenbetreiber lasst uns Autofahrer nicht länger hängen. Verschont uns mit Gummi-Buletten und Billigfetten. Hunger macht wütend. Auf deutschen Autobahnen gibt es schon genügend wütende Menschen.
Forscher des Max-Planck-Instituts in Martinsried untersuchten den Einfluss von Hunger auf das Verhalten von Zebrafischen. Dafür ließen sie computeranimierte Kreise unterschiedlicher Größe durch das visuelle Feld von Fischlarven ziehen. „Hungrige Fische verfolgten kleine Punkte deutlich häufiger als satte Fische und wichen größeren Punkten seltener aus”, so Alessandro Filosa. Die Forscher gehen davon aus, dass hungrige Tiere zu größeren Risiken bereit sind als satte.
Schokoriegel, die praktischerweise immer direkt an der Kasse liegen, sind kein Essen, sondern eine Notlösung. Beneidenswert, wer seinen knurrenden Magen im Zaum halten kann, wie der Sternekoch Christian Jürgens, der in einem Interview für dieses Blog verriet: „lieber esse ich einen schönen Apfel. Nichts Abgepacktes an der Tankstelle. Ich hungere dann“ Gut möglich, dass er sehr schnell fährt. Ein Gutes hat das Ganze zumindest für ihn: die Ideen für seine Rezepte kommen ihm regelmäßig Auto.
Mir jedenfalls kommt regelmäßig der Hunger, das liegt in der Familie, egal wie viele Brote wir vorher geschmiert haben, noch vor der der Auffahrt zur Autobahn sind sie alle aufgegessen. Autobahn und Satt sein, in meinem Erfahrungsschatz waren das zwei Antonyme. Bis zu jenem kulinarischen Erweckungserlebnis, ausgerechnet in Frankreich, mitten im Nirgendwo, nördlich von Lyon. Zu allererst tauchte hoch über den grünen Baumwipfeln diese gigantische Skulptur auf, ein Huhn aus gebogenem Stahl, auf dessen stolz geschwellter Brust die Sonne funkelte. Der Proviant war aufgebraucht, also setzten wir den Blinker und fuhren zur Raststätte. Unsere müden Blicke blieben als Erstes an einem Hühnerautomaten hängen. Darin gab es das glorreiche „poulet de Bresse“, deutsch Bressehuhn, zum Mitnehmen. An der blau-violetten Fessel klemmte der vorgeschriebenen Siegelring, das Trikolore Blechschild in der weißen Haut. Das Huhn im Automaten war ungebraten. Der feine Bratenduft kam aus einer anderen Ecke, er wehte von der heißen Theke des Restaurants herüber. Zögernd traten wir näher und trauten unseren Sinnen kaum. Es gab tatsächlich richtiges Essen! Kross gebratenes Hühnchen, das vor unseren Augen sorgfältig zerlegt und mit einer duftenden Kräuterbrühe übergossen wurde. Dazu Prinzessbohnen und Blumenkohl-Gratin mit feiner Käsekruste. Die Portionen waren überwältigend, die Preise günstiger als im Restaurant zu Hause. Wir haben im Freien gegessen, die nahe Autobahn war schnell vergessen und dank Lärmschutz so still, dass wir die Bienen im goldenen Spätnachmittagslicht über den Kräuterbeeten summen hörten. Auf der weitläufigen Wiese nebenan spielten Kinder. Versonnen lauschten wir dem Vogelgezwitscher, unsere Eile nach Hause zu kommen war verflogen. Auf einer der Infotafeln lasen wir, dass das Bressehuhn unter besonderen Bedingungen gezüchtet wird, mit vorgeschriebenen zehn Quadratmetern Fläche hat es mehr Auslauf als seine Artgenossen. Neben Wiesenkräutern besteht sein Futter ausschließlich aus lokalem Mais, Buchweizen, Schnecken und Würmern. Die vorzügliche Qualität verschafft dem „poulet de Bresse“ einen überregionalen Bekanntheitsgrad. Noch Stunden später redeten wir über das köstliche Hühnchen aus Bresse, schwärmten wir von der Zartheit von Brust und Keule. Verständnisvoll ließen wir sämtliche Raser auf der A5 an uns vorüber ziehen. Hunger ist eben ein körperlich unangenehmer Reiz, dem schnell entgegengewirkt werden muss. Wer satt ist, hat viel Zeit.