Formfrei

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An dieser Stelle bloggt Publizist und FAZ-Autor Thomas Strobl über die großen und kleinen Dinge des Lebens. Mal kurz und knapp. Mal mit vielen

Was haben sie ihm getan?

| 39 Lesermeinungen

Zuerst kam das Erdbeben. Ein fürchterliches Erdbeben. Dann folgte der Tsunami. Nicht irgendein Tsunami. Aber damit nicht genug: Ausgerechnet den Japanern, die im Zweiten Weltkrieg schon einmal die Gewalt des Atoms am eigenen Leib zu spüren bekamen, droht erneut die Strahlenpest. Wäre ich ein gottgläubiger Mensch, dann würde ich mich fragen: Warum? Was haben sie ihm bloß getan?

Zuerst kam das Erdbeben. Ein fürchterliches Erdbeben. Fürchterlich selbst für japanische Verhältnisse. Sozusagen die Mutter aller Erdbeben. Schlimm genug.

Dann folgte der Tsunami. Nicht irgendein Tsunami. Kein Tsunami, wie ihn die Küstenbewohner Japans gewohnt waren. Kein Tsunami, wie sie ihn früher schon so oft erlebt hatten; wie er sie jedesmal überraschte, sie dabei oft genug überrannte. Kein Tsunami, wie sie sich hernach noch besser vor ihm schützen wollten, mit hohen und noch höheren Mauern. Nein. Der Tsunami! Er kam. Er kam schnell und er war furchtbar. Zu Tausenden sog er sie ein. Und zu Tausenden spuckt er sie jetzt wieder aus. Jetzt, wo er mit ihnen fertig ist. Leblos, sinnlos – angespült wie stinkendes Treibholz am Strand. Zehntausend Tote, einfach so. Wegen einer „9“ auf irgendeiner Skala – was immer das auch genau bedeuten mag.

Spätestens ab jetzt redet die Welt über eine Katastrophe. Von nun an ist nichts mehr mit „business as usual“, für die Weltgesellschaft nicht und ihre Nachrichtenmedien auch nicht. Und für die obdachlosen, verletzten, trauernden, frierenden, ihre letzten Lebensmomente aushauchenden, von den Naturgewalten zertrümmert in ein Trümmerfeld geworfenen Japaner sowieso nicht. Für die verzweifelt um Hilfe Schreienden nicht, und für die noch verzweifelter nach ihren Kindern Suchenden auch nicht.

Aber damit nicht genug. Das war nur das Vorspiel. Die tausenden Toten nur Statisten. Der Zorn eines zynischen Gottes hat viele Gesichter: Erst jetzt erreicht das Stück sein Finale. Doch selbst das kann nicht so sein, wie man es sich wünscht: kurz und schmerzlos. Und wenn schon nicht schmerzlos, dann wenigstens kurz. Nein: Eine Tragödie in drei Reaktoren bildet das Hauptstück: eins, drei und vier. Selbst zwei darf einen Part übernehmen, kurz zwar, aber nicht unbedeutend für die Dramaturgie. Zuerst brennt ein Reaktor, und kaum ist er so halbwegs unter Kontrolle, brennt der nächste. Was schief gehen kann, geht schief; was explodieren kann, explodiert. Beben folgt auf Beben; Systeme versagen, Menschen versagen. Und wo jedes Katastrophen-Movie der 70er-Jahre längst ins Parodistische gekippt wäre, gibt es in diesem Plot noch eine Draufgabe: dieses Abklingbecken in Reaktor 4, da liegen doch noch heiße Brennstäbe drinnen, die könnte man doch… Und tatsächlich: Brennen sollen sie, diese Stäbe!

Und der Mensch wehrt sich und der Mensch windet sich: Meerwasser, Hubschrauber, Ersatzstromleitungen. 180 Helden, einen qualvollen Tod vor Augen, deren Namen die Welt vermutlich nie erfahren wird. Wie es derzeit aussieht umsonst. Ausgerechnet den Japanern, die im Zweiten Weltkrieg schon einmal die Gewalt des Atoms am eigenen Leib zu spüren bekamen, droht erneut die Strahlenpest. Mit einer Katastrophe wären sie fertig geworden; mit zwei wahrscheinlich auch noch. Aber das, diese heimtückische Verschwörung der Elemente, war zuviel. 

Wäre ich ein gottgläubiger Mensch, dann würde ich mich fragen: Warum? Was haben sie ihm bloß getan?


39 Lesermeinungen

  1. schusch sagt:

    Herr Strobl, schön, dass sie...
    Herr Strobl, schön, dass sie wieder da sind.
    1775 Lissabon war auch schon ein Anlass, das mit dem liebenden Gott Mal zu überdenken. Da nahm die Aufklärung dann Fahrt auf.

  2. HansMeier555 sagt:

    Sie haben der Atomlobby...
    Sie haben der Atomlobby vertraut.

  3. Ups.. sagt:

    moderne Zeiten. Gott ist der...
    moderne Zeiten. Gott ist der Mammon. Deshalb nicht auf Wellen und Beben in der Realität schauen. Die Welle wird gerade beim Dollar/Yen geritten. Yhippie…

  4. Bernhard sagt:

    @UPS

    Nicht ganz richtig. Der...
    @UPS
    Nicht ganz richtig. Der Gott heißt Kapitalismus, ihn gibt’s in staatlicher Form (Tschernobyl – als Erinnerung an die UdSSR) oder in privatwirtschaftlicher Form: Fuku…
    So isses einfach. Very simple.
    Und in Hessen führen wir die Schuldenbremse ein – Hurra, die Schule brennt, oder so ähnlich. Ich könnte heulen.

  5. brokdorf76 sagt:

    das eine ist mutter erde, die...
    das eine ist mutter erde, die uns an unsere natürlichen grenzen erinnert, dagegen ist kein kraut gewachsen.
    die andere seite der medallie verhält sich ganz im sinne der marktgesetze, kostensparen für den shareholder value. das akw fukushima ist seit 2009 nicht mehr versichert, das kam vorhin in den östreichischen (zufalll!)nachrichten. die kosten hat sich TEPCO auch gespart. so funktioniert nun mal kapitalismus. da kann man nichts machen oder doch?
    das tv zeigt die bilder des elends in den resten der weggespülten orte, frierende menschen, zu wenig essen, keine medikamente…schöne globalisierte welt, in 16 stunden ist man von frankfurt nach tokyo. das finde ich bitter.
    @ups..andersrum wird ein schuh draus: der mammon spielt gott.

  6. alfredbenz sagt:

    Sie hätten die Finger von den...
    Sie hätten die Finger von den Walen lassen sollen. Die gehören nämlich Neptun, dem Meeresgott.
    Und der hat ihnen jetzt mächtig was auf die Mütze gegeben.
    Aber sind die Japaner lernfähig?

  7. Robert sagt:

    Interessiert sich eigentlich...
    Interessiert sich eigentlich noch irgendjemand für die 316.000(!) Toten in Haiti vor gut einem Jahr ?!

  8. Doktor D sagt:

    @schusch: 1755 nahm die...
    @schusch: 1755 nahm die Aufklärung dann Fahrt auf? Falls Sie hier auf den Theodizee-Diskurs anspielen: Leibniz und Wolff waren Aufklärer, genauso wie Voltaire und Kant. Das Erdbeben von Lissabon war für die komplette Aufklärung (wenn man sich schon in geistesgeschichtlichen Plastikbegriffen ausdrücken möchte) ein Schock, der die Idee von einer prinzipiell durch Vernunft erschließbaren Welt sehr ins Wanken gebracht hat. Eine Antwort darauf waren die Versuche, naturwissenschaftliche Erklärungen für solche Ereignisse heranzuführen. Dass wir heute ein Erdbeben als Naturkatastrophe bezeichnen, ist Teil dieser Entwicklung. Und selbst hier schwingt immer noch die alte Metaphysik und die Suche nach dem Sinn mit. Katastrophe kommt aus der antiken Dramentheorie und setzt einen Handlungsbegriff voraus, der sich im modernen naturwissenschaftlichen Verständnis eigentlich verbietet. Das Herr Strobl so einen Blog-Beitragen schreiben kann, zeigt ja selbst, wie wenig die Aufklärung sich von ihren moraltheologischen Annahmen befreit hat.

  9. schusch sagt:

    @ Devin.

    Erwähnenswert wäre...
    @ Devin.
    Erwähnenswert wäre darüber hinaus noch der Marques de Pombal, der durch seine Krisenmanagement so etwas wie eine moderne staatliche Administration geschaffen und nebenbei den Adel politisch entmachtet hat.

  10. schusch sagt:

    @ Doktor D.

    Erwähnenswert...
    @ Doktor D.
    Erwähnenswert wäre darüber hinaus noch der Marques de Pombal, der durch seine Krisenmanagement so etwas wie eine moderne staatliche Administration geschaffen und nebenbei den Adel politisch entmachtet hat.

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