Alles wie gehabt: Schwänze werden ein- und Anträge zurückgezogen; laue Erklärungen dort vorgetragen, wo früher die scharfen Worte regierten. Und schon ist der Schein wieder schön. Zwar habe man gesagt, dass… aber damit wollte man ja nicht… nein, keineswegs wollte man… es tue einem natürlich sehr leid, wenn trotzdem Missverständnisse…
Paradoxerweise ist Sarrazin nicht mehr Bundesbanker, bleibt aber weiterhin SPD-Mitglied. Paradox insoweit, als er gegen nichts verstoßen hat, was Sache der Bundesbank wäre; jedoch gegen vieles verstoßen hat, was die SPD zu ihrer Sache erklärt hat. Aber man hat sich geeinigt. „Gütlich“ geeinigt, so heißt es.
Zwei einigen sich, erneuern ihren Bund; der Dritte, um den es eigentlich ging, ist außen vor. In den Parteigremien der SPD wie auch im Freundeskreis Sarrazin sind wieder alle happy; über und zu den türkischen Migranten, die durch den Parteiausschluss symbolisch Genugtuung erfahren hätten, kein Wort. Ihnen wird einmal mehr die Rolle des Parasiten zugewiesen, im Sinne Michel Serres‘, als eingeschlossene Ausgeschlossene, erfasst zwar von unserer gesellschaftlichen Ordnung, aber nur als Störer. Ob zutreffend oder nicht, in diese semantische Ecke wurden sie von Sarrazin kommuniziert, lange vor seinem Buch; allen voran das zum geflügelten Wort gewordene „Kopftuchmädchen“. Wenn der SPD-Kommission anderweitig nichts Belastendes in der Causa Sarrazin eingefallen wäre, das Kopftuchmädchen hat das Maß eigentlich schon vollgemacht. Denn mit welchem Recht wurde es herausgegriffen und zum Gegenstand eines zynischen Diskurses gemacht? Sie, die sich nicht im Mindesten dafür rechtfertigen müssen sollte, nicht als dieses oder jenes sondern eben als „Kopftuchmädchen“ gezeugt worden zu sein; und dem damit seine Geburt an sich zum Vorwurf gemacht wird, sein nacktes Sein als Mensch, aufgrund der willkürlichen Assoziation seiner Eltern mit dem zur sarrazinschen Industriegesellschaft nicht kompatiblen Gemüsehändler und der geistig unterbelichteten, zwangsverheirateten anatolischen Mutter. Alleine dafür hätte man Sarrazin aus der Partei werfen können; dafür, dass er Migrantenkinder zu Doppelagenten zwischen den Welten erklärt, Dämonen gleich, nicht Teil von uns und auch nicht Teil der anderen, kein Mitglied unserer Gesellschaft, sondern halt nur irgendwie „da“. Ein Problem, mit dem man sich als Problem beschäftigen muss.
Sarrazin – und wer sein Buch gelesen hat, insbesondere die autobiografischen Passagen darin, wird mir zustimmen – bemüht für die Modellierung seiner Welt weder die Unterscheidung „deutsch/nicht-deutsch“ noch „intelligent/nicht-intelligent“, wie es die Debatte um die Vererbung der Intelligenz glauben machen könnte; sondern er richtet nach dem schlichten Schema: „eigen/fremd“. So modern er sich mit seinen Verweisen auf wissenschaftliche Studien und seinen Modellrechnungen auch geben will, beschreitet er damit doch nichts anderes als dieselben alten Kriegspfade, auf denen die kulturelle Konfrontation Europas mit dem Rest der Welt seit den Tagen der christlichen Missionierung ausgetragen wurde. Sarrazin versucht seine hegemoniale Unifizierung aber nicht mehr im mittelalterlichen Ständestaat mit weitgehend homogener Bevölkerung, sondern inmitten einer polyzentrischen und heterarchisch organisierten Gesellschaft. Deren Beschreibung mittels einfacher Schematismen muss scheitern und im Resultat zur Exklusion führen; so wie beim „Kopftuchmädchen“, das zwar deutsch und womöglich auch integriert im besten behördlichen Sinne ist, aber einem Thilo Sarrazin durch dessen Brille trotzdem als „fremd“ erscheint. So gesehen führt auch der Titel seines Buches in die Irre, denn Deutschland schafft sich darin mitnichten ab, vielmehr dokumentiert der Autor die Furcht eines persönlichen Verlustes, nämlich „seines“ Deutschlands, in dem brav gescheitelte Buben und Mädchen sonntags in die Kirche gehen und während der Woche Goethe-Verse auswendig lernen.
Man kann den Sozialdemokraten nachsehen, dass sie des lieben Parteifriedens wegen die Waffen schweigen lassen; dass sie damit einer politischen Position die Referenz erweisen, die auf die Vormoderne gerichtet ist, muss man nicht goutieren.