Formfrei

Ein FKK-Strand namens "Post-Privacy"

Ich kann die Kontroverse um „Post-Privacy“ nicht nachvollziehen; dieses verbissene Hin und Her von immer ausgefuchsteren, immer ausgefransteren Argumenten, dieses Auffahren der ganz großen rhetorischen Geschütze, „Bill of Rights in Cyberspace“ und „Recht auf Vernetzung“ und dergleichen. Rechte, Rechte, Rechte – die stehen bei allen immer im Vordergrund, egal, von welcher Seite sie sich dem Problem nähern; aber trotzdem kommen sie irgendwie nicht zusammen. Vielleicht liegt es ja daran, wer weiß, dass alle stets über die Rechte reden und nie über Pflichten, dass die Debatte zu keinem gemeinsamen Nenner findet. Über Rechte zu reden ist ja schick, ist trendy und modern, weil dank Rechten kann man, muss aber nicht, und das wollen alle, das spricht für das souveräne, selbstbestimmte Individuum, und das selbstbestimmte Individuum, das ist cool, das ist Generation Facebook, das ist die Zukunft, dafür macht man sich gerne stark. Pflichten hingegen haben schon fast was diktatorisches, pfui, das klingt nach Zensur in China und Massenprotesten in Ägypten. Nee nee, mein Lieber, über Pflichten zu reden ist total unsexy.

Dabei scheinen mir die Dinge überaus simpel. Stellen wir uns einfach mal vor, die Welt sei ein einziger, großer FKK-Strand; ein FKK-Strand mit angeschlossenem Camping-Platz. Mir persönlich fällt es leicht, mir das vorzustellen, da mag es anderen anders gehen, weil ich während meiner Kinder- und Jugendjahre so gut wie alle Sommerurlaube in einem derartigen Ambiente zugebracht habe. Daher weiß ich um die Konventionen auf so einem FKK-Strand: Nacktheit immer und überall, auch und vor allem in der Öffentlichkeit, sozusagen Post-Privacy-Total. Ganz einfach zu verstehen, überhaupt nicht kompliziert, und um es kurz zu machen: Bezogen auf den FKK-Strand sind die Argumente von Jeff Jarvis und seinen Fans so überzeugend wie zutreffend. Einem nackten Mann kann man bekanntlich nicht in die Tasche greifen, das weiß sogar der Volksmund, und wer nackt ist, hat keine Möglichkeit etwas zu verbergen. Und weil niemand etwas zu verbergen hat, kann er auch hinterrücks keine Schurkenstücke aushecken, kann nichts Böses im Schilde führen, weil dazu fehlt ihm schlicht und ergreifend der Schild. In der Faktizität wie in der Beobachtung, jeder sieht alles, bei sich und beim anderen, sieht was er hat und was er nicht hat, klare Ansage und daher kein Anlass zur Erwartung negativer Überraschungen, nirgendwo. Im Paradies begegnen sich Adam und Eva daher nackt, logisch, und zwar nicht primär deshalb, weil es die Dinge zwischen Mann und Frau so praktisch gestaltet, sondern weil damit der Inbegriff von Unschuld und die Absenz alles Bösen verwirklicht wird. Klar soweit? Post Privacy ist das Paradies, in dem sich unschuldige Menschen unschuldig begegnen, ein Verhalten gegenüber dem anderen an den Tag legen, das nicht nur aufgrund von Maximen vermutet, sondern angesichts ausschließlicher Nacktheit auch als relativ sicher erwartet werden kann.

Unnötig hinzuzufügen, dass auch reale Menschen nach Adam und Eva in derartigen Sozialstrukturen lebten, Clan- und Stammesgesellschaften, und damit waren sie nicht post- sondern pre-privacy. Die Privatheit ist damit selbstredend nicht „natürlich“, nicht etwas, was dem Menschen in die Wiege gelegt worden wäre, wie es die Debattenrhetorik bisweilen glauben machen will, sondern das glatte Gegenteil: ein Produkt der Moderne. Und als solches teilt sie die Produktmerkmale all dessen, was die Moderne im Laufe der Zeit sonst noch so hervorgebracht hat: Sie ist paradox und ambivalent und nicht nur und ausschließlich und stets und überall „gut“. Aber das ist kein Thema für hier und heute, nichts, was wie hier vertiefen müssten. Halten wir stattdessen fest, dass Post-Privacy innerhalb der Grenzen unseres FKK-Geländes paradiesische Zustände verspricht, wir daher die Argumente von Jarvis und anderen Nacktbadefans in einem solchen Kontext als richtig und zutreffend erachten.

Bleibt allerdings noch die Frage zu klären: Besteht die Welt nur aus FKK-Freunden? Offenbar nicht, so die Antwort, wie man schon aus dem jüngsten Zalando-Werbespot weiß (und indem die Figur des Aufsehers mich ein wenig an Jarvis erinnert, von körperlichen Merkmalen mal abgesehen, wie er auf absolute Hüllenlosigkeit pocht, mit Trillerpfeife und Blockwart-Rhetorik, auch beim Postboten). Genau darin liegt des Problem. Denn die Phrase vom „Recht auf Vernetzung“ insinuiert, dass alle, die sich auf dem FKK-Gelände aufhalten, dort nur in Wahrnehmung ihrer Rechte unterwegs sind; es „wollen“, aus eigener Überzeugung und in ungeschmälerter, individueller Souveränität. Und nicht, weil sie es „müssen“. Wer also ständig vom „Recht“ auf Vernetzung redet, der verschweigt, dass es auch eine Pflicht zur Vernetzung gibt; einer Pflicht, der in der ganzen Debatte wesentlich mehr Aufmerksamkeit zukommen müsste, denn schließlich ist, mit Internet oder ohne, das „Vernetzen“, sprich: das Eingehen von sozialen Bindungen, das, was aus dem Menschen erst den Menschen macht. Das Eingehen von Bindungen, losen und festen, erzeugt und formt das Individuum, verschafft soziale Identität. Wie sonst sollte man sich also den Mensch in der Gesellschaft vorstellen, als ohne soziale Bindung, oder, um im Jargon zu bleiben, Vernetzung? Ein Ding der Unmöglichkeit.

Nun wird diese Pflicht nicht unbedingt als „Pflicht“ im engeren Wortsinn wahrgenommen; natürlich hat man keine Freunde und keine Twitter-Follower-Gemeinde aus Pflichtbewusstsein, sondern man hat sie. Weil man sie hat; haben will. Weil man so lebt und nicht anders, den Freundeskreis quasi als Teil seines Lebens, ja als Lebensnotwendigkeit ansieht. Wie aber ist es mit anderen Lebensnotwendigkeiten? Im beruflichen aber auch im privaten Leben? Was, wenn interessante Jobangebote eines Tages nur noch über das Internet vermittelt werden? Was, wenn es keine Reisebüros und keine Buchhandlungen aus Stein und Beton mehr gibt, weil sie durch Amazon, Expedia und Co komplett verdrängt wurden? Was, wenn in einer Ära, die der intimen Kommunikation tendenziell immer weniger Platz einräumt (was zumindest von einem Teil der Soziologie diagnostiziert wird) auch immer mehr Persönliches auf Webplattformen praktiziert wird, die Partnerwahl zum Beispiel? Reden wir dann immer noch über ein „Recht auf Vernetzung“? Oder handelt es sich nicht vielmehr um eine faktische Notwendigkeit, vernetzt zu sein, und zwar in den Formen, die keineswegs aus individueller Souveränität heraus gewählt werden, sondern weil die Gesellschaft sie vorgibt? Wenn die guten Jobs nur noch über Börsen im Web vermittelt werden: Was bleibt einem dann anderes übrig, als sich auf besagten Börsen zu registrieren und das Spiel mitzuspielen? Für einen solchen Personenkreis, der sich also nur den faktischen Notwendigkeiten beugt (womöglich sogar die Mehrheit?) wäre dann aber ein Fortbestehen von Privacy vielleicht doch von Interesse?

Aber auch das kann man natürlich verneinen; kann argumentieren, dass für eine bessere Welt tatsächlich alle zu FKK-Freunden werden müssten. Alleine: Das ist weder neu noch originell. Das entspräche einer Post-Privacy, wie sie bereits die Stalinisten praktizierten.

 

 

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