Formfrei

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An dieser Stelle bloggt Publizist und FAZ-Autor Thomas Strobl über die großen und kleinen Dinge des Lebens. Mal kurz und knapp. Mal mit vielen

Ein FKK-Strand namens "Post-Privacy"

| 18 Lesermeinungen

Stellen wir uns einfach mal vor, die Welt sei ein einziger, großer FKK-Strand; ein FKK-Strand mit angeschlossenem Camping-Platz. Dann sehen wir in der Kontroverse um "Post-Privacy" umgehend klarer.

Ich kann die Kontroverse um „Post-Privacy“ nicht nachvollziehen; dieses verbissene Hin und Her von immer ausgefuchsteren, immer ausgefransteren Argumenten, dieses Auffahren der ganz großen rhetorischen Geschütze, „Bill of Rights in Cyberspace“ und „Recht auf Vernetzung“ und dergleichen. Rechte, Rechte, Rechte – die stehen bei allen immer im Vordergrund, egal, von welcher Seite sie sich dem Problem nähern; aber trotzdem kommen sie irgendwie nicht zusammen. Vielleicht liegt es ja daran, wer weiß, dass alle stets über die Rechte reden und nie über Pflichten, dass die Debatte zu keinem gemeinsamen Nenner findet. Über Rechte zu reden ist ja schick, ist trendy und modern, weil dank Rechten kann man, muss aber nicht, und das wollen alle, das spricht für das souveräne, selbstbestimmte Individuum, und das selbstbestimmte Individuum, das ist cool, das ist Generation Facebook, das ist die Zukunft, dafür macht man sich gerne stark. Pflichten hingegen haben schon fast was diktatorisches, pfui, das klingt nach Zensur in China und Massenprotesten in Ägypten. Nee nee, mein Lieber, über Pflichten zu reden ist total unsexy.

Dabei scheinen mir die Dinge überaus simpel. Stellen wir uns einfach mal vor, die Welt sei ein einziger, großer FKK-Strand; ein FKK-Strand mit angeschlossenem Camping-Platz. Mir persönlich fällt es leicht, mir das vorzustellen, da mag es anderen anders gehen, weil ich während meiner Kinder- und Jugendjahre so gut wie alle Sommerurlaube in einem derartigen Ambiente zugebracht habe. Daher weiß ich um die Konventionen auf so einem FKK-Strand: Nacktheit immer und überall, auch und vor allem in der Öffentlichkeit, sozusagen Post-Privacy-Total. Ganz einfach zu verstehen, überhaupt nicht kompliziert, und um es kurz zu machen: Bezogen auf den FKK-Strand sind die Argumente von Jeff Jarvis und seinen Fans so überzeugend wie zutreffend. Einem nackten Mann kann man bekanntlich nicht in die Tasche greifen, das weiß sogar der Volksmund, und wer nackt ist, hat keine Möglichkeit etwas zu verbergen. Und weil niemand etwas zu verbergen hat, kann er auch hinterrücks keine Schurkenstücke aushecken, kann nichts Böses im Schilde führen, weil dazu fehlt ihm schlicht und ergreifend der Schild. In der Faktizität wie in der Beobachtung, jeder sieht alles, bei sich und beim anderen, sieht was er hat und was er nicht hat, klare Ansage und daher kein Anlass zur Erwartung negativer Überraschungen, nirgendwo. Im Paradies begegnen sich Adam und Eva daher nackt, logisch, und zwar nicht primär deshalb, weil es die Dinge zwischen Mann und Frau so praktisch gestaltet, sondern weil damit der Inbegriff von Unschuld und die Absenz alles Bösen verwirklicht wird. Klar soweit? Post Privacy ist das Paradies, in dem sich unschuldige Menschen unschuldig begegnen, ein Verhalten gegenüber dem anderen an den Tag legen, das nicht nur aufgrund von Maximen vermutet, sondern angesichts ausschließlicher Nacktheit auch als relativ sicher erwartet werden kann.

Unnötig hinzuzufügen, dass auch reale Menschen nach Adam und Eva in derartigen Sozialstrukturen lebten, Clan- und Stammesgesellschaften, und damit waren sie nicht post- sondern pre-privacy. Die Privatheit ist damit selbstredend nicht „natürlich“, nicht etwas, was dem Menschen in die Wiege gelegt worden wäre, wie es die Debattenrhetorik bisweilen glauben machen will, sondern das glatte Gegenteil: ein Produkt der Moderne. Und als solches teilt sie die Produktmerkmale all dessen, was die Moderne im Laufe der Zeit sonst noch so hervorgebracht hat: Sie ist paradox und ambivalent und nicht nur und ausschließlich und stets und überall „gut“. Aber das ist kein Thema für hier und heute, nichts, was wie hier vertiefen müssten. Halten wir stattdessen fest, dass Post-Privacy innerhalb der Grenzen unseres FKK-Geländes paradiesische Zustände verspricht, wir daher die Argumente von Jarvis und anderen Nacktbadefans in einem solchen Kontext als richtig und zutreffend erachten.

Bleibt allerdings noch die Frage zu klären: Besteht die Welt nur aus FKK-Freunden? Offenbar nicht, so die Antwort, wie man schon aus dem jüngsten Zalando-Werbespot weiß (und indem die Figur des Aufsehers mich ein wenig an Jarvis erinnert, von körperlichen Merkmalen mal abgesehen, wie er auf absolute Hüllenlosigkeit pocht, mit Trillerpfeife und Blockwart-Rhetorik, auch beim Postboten). Genau darin liegt des Problem. Denn die Phrase vom „Recht auf Vernetzung“ insinuiert, dass alle, die sich auf dem FKK-Gelände aufhalten, dort nur in Wahrnehmung ihrer Rechte unterwegs sind; es „wollen“, aus eigener Überzeugung und in ungeschmälerter, individueller Souveränität. Und nicht, weil sie es „müssen“. Wer also ständig vom „Recht“ auf Vernetzung redet, der verschweigt, dass es auch eine Pflicht zur Vernetzung gibt; einer Pflicht, der in der ganzen Debatte wesentlich mehr Aufmerksamkeit zukommen müsste, denn schließlich ist, mit Internet oder ohne, das „Vernetzen“, sprich: das Eingehen von sozialen Bindungen, das, was aus dem Menschen erst den Menschen macht. Das Eingehen von Bindungen, losen und festen, erzeugt und formt das Individuum, verschafft soziale Identität. Wie sonst sollte man sich also den Mensch in der Gesellschaft vorstellen, als ohne soziale Bindung, oder, um im Jargon zu bleiben, Vernetzung? Ein Ding der Unmöglichkeit.

Nun wird diese Pflicht nicht unbedingt als „Pflicht“ im engeren Wortsinn wahrgenommen; natürlich hat man keine Freunde und keine Twitter-Follower-Gemeinde aus Pflichtbewusstsein, sondern man hat sie. Weil man sie hat; haben will. Weil man so lebt und nicht anders, den Freundeskreis quasi als Teil seines Lebens, ja als Lebensnotwendigkeit ansieht. Wie aber ist es mit anderen Lebensnotwendigkeiten? Im beruflichen aber auch im privaten Leben? Was, wenn interessante Jobangebote eines Tages nur noch über das Internet vermittelt werden? Was, wenn es keine Reisebüros und keine Buchhandlungen aus Stein und Beton mehr gibt, weil sie durch Amazon, Expedia und Co komplett verdrängt wurden? Was, wenn in einer Ära, die der intimen Kommunikation tendenziell immer weniger Platz einräumt (was zumindest von einem Teil der Soziologie diagnostiziert wird) auch immer mehr Persönliches auf Webplattformen praktiziert wird, die Partnerwahl zum Beispiel? Reden wir dann immer noch über ein „Recht auf Vernetzung“? Oder handelt es sich nicht vielmehr um eine faktische Notwendigkeit, vernetzt zu sein, und zwar in den Formen, die keineswegs aus individueller Souveränität heraus gewählt werden, sondern weil die Gesellschaft sie vorgibt? Wenn die guten Jobs nur noch über Börsen im Web vermittelt werden: Was bleibt einem dann anderes übrig, als sich auf besagten Börsen zu registrieren und das Spiel mitzuspielen? Für einen solchen Personenkreis, der sich also nur den faktischen Notwendigkeiten beugt (womöglich sogar die Mehrheit?) wäre dann aber ein Fortbestehen von Privacy vielleicht doch von Interesse?

Aber auch das kann man natürlich verneinen; kann argumentieren, dass für eine bessere Welt tatsächlich alle zu FKK-Freunden werden müssten. Alleine: Das ist weder neu noch originell. Das entspräche einer Post-Privacy, wie sie bereits die Stalinisten praktizierten.

 

 


18 Lesermeinungen

  1. ThorHa sagt:

    "Unnötig hinzuzufügen, dass...
    „Unnötig hinzuzufügen, dass auch reale Menschen nach Adam und Eva in derartigen Sozialstrukturen lebten, Clan- und Stammesgesellschaften, und damit waren sie nicht post- sondern pre-privacy. Die Privatheit ist damit selbstredend nicht „natürlich““ ist ein extrem schwaches Argument. Es sei denn, der Autor möchte auch unter den Produktions-, Hierarchie-, Umwelt- und sonstigen Bedingungen leben, die ohne Privatheit auskamen (zwangsweise). Seitdem der Mensch sich aus eigenem Antrieb vom reinen Natur- zum Kulturwesen wandelt, kann man historisch im übrigen den Drang zur Schaffung einer Privatsphäre beobachten, woher soll der kommen, wenn er nicht „natürlich“ (also im Menschen angelegt) ist? Und wie soll z.B. die Begründung einer Demokratie mit Wahlfreiheit aussehen, wenn es werder ein autonomes Individuum noch Wahlfreiheit gibt? Nein, die Begründer der Post-Privacy haben erkennbar sehr, sehr oberflächlich und kurzsichtig argumentiert. Folgt man ihrer Argumentation, hebelt man im Ergebnis übrigens die konstituierende Bedingung moderner demokratischer Rechtsstaaten aus – das Axiom individueller Handlungsfreiheit. In der Post-Privacy gäbe es sie nicht mehr. Zu dieser individuellen Handlungsfreiheit gehört übrigens auch die Entscheidung zum „Bösen“ nach überzeitlichen (wie Mord) wie nach zeitgeistabhängiger Definition (wie Urheberrechtsverletzung). Danach bleibt eigentlich unnötig, daran zu erinnern, dass selbst die Gesellschaften des nackten „edlen“ Wilden selbstverständlich ebenso Verbrecher wie alle Spielarten von Grausamkeiten oder Betrug kannten – sie nahmen nur andere als die uns bekannten Formen an. Womit das stärkste Argument der Post-Privacy Befürworter glatter Unsinn wird – das sie eine bessere Welt schaffe. Das war schon immer der beste Grund, eine Hölle zu erschaffen, weil man ins Paradies wollte (frei nach K.R. Popper).
    Gruss,
    Thorsten Haupts

  2. Wie stehen die...
    Wie stehen die Post-Provacy.Freunde eigentlich zum Thema Volkszählung? Eigentlich dürften die dagegen ja nichts einzuwenden haben – oder ist nur der Daten erhebende Staat (der ja u.a. die Infrastruktur zur Verfügung stellt, die auch das www benötigt) böse, der gute kalifornische Konzern (der die Datenan andere Konzerne weiterverkauft) aber nicht?

  3. nnier sagt:

    Ganz wunderschön auf einen...
    Ganz wunderschön auf einen sehr wunden Punkt gebracht. Es hat manchmal schon was ziemlich Dürftiges an sich, wenn die Vorkämpfer der Nacktheit mal eben das Bedürfnis nach Privatsphäre als Duckmäusertum diffamieren oder auch bei Übergriffen im digitalen Raum mit den Schultern zucken, dass man da eh nichts machen könne und übrigens bitte eine Gesellschaft schaffen solle, in der „Daten keine Existenzen gefährden“ und „intimste Informationen“ nur „Schulterzucken hervorrufen“.

  4. Plindos sagt:

    ThorHa: Ihre Ableitung ist...
    ThorHa: Ihre Ableitung ist für mich durchaus einsichtig.
    Geradezu grotesk passend zu diesem Thema der aktuelle Hackingbruch bei Sony. Wie kann man nur so blöd hedonistisch sein und seine Tage hinter solch hirnrissigen Daddelkonsolen verbringen, dafür private Daten und Geld hinlegen? Mit abgefeimter Präzision sind die allerdings die Programme generiert & entworfen. Ob bei den Konsumenten da noch Raum für Reflexion, politisches oder gar literarisches Denken bleibt, wage ich doch zu bezweifeln.
    Aus quasi forschender Neugierde habe ich mich mal hinter solch ein Programm geklemmt, es war so eine Art military game. Ganz leicht das „Umnieten“ des fiktiven Gegners, keinerlei Skrupel tauchen auf. Alles ganz sportiv, blut- und keimfrei. Folge andersherum wie von nnier@: treffend bemerkt:“Daten keine Existenzen gefährden“ Folgenlos?

  5. ThorHa sagt:

    @Plindos:
    Auch wenn das meinen...

    @Plindos:
    Auch wenn das meinen Ruf endgültig ruiniert – ich bin neben Leser auch überzeugter Computerspieler :-). Zugegeben, mit den reinen Ballerspielen kann ich wenig anfangen, ich brauche Spiele, die mich zum Denken nötigen (Kategorie: Strategie – Anm. für Spielekenner).
    Warum allerdings die versammelten Idioten dieser Welt wichtige private Daten ausgerechnet Unternehmen anvertrauen, ist eines der Mysterien unserer Zeit. Vor allem und bevorzugt solchen, bei denen ich den Inhaber nicht persönlich kenne und jeden zweiten Tag in der Stadt grüsse … Manchmal habe ich den heimlichen Verdacht. die Post-Privacy Propagandisten würden von Unternehmen bezahlt. Denn für die gäbe es wenig, was sie glücklicher machen würde, als die komplette Daten-Nacktheit jedes Menschen.
    Gruss,
    Thorsten Haupts

  6. "...das diskursive...
    „…das diskursive Fingerspitzengefühl…“
    Ach, der Jens „Schwurbel“ Best ist wieder da.
    Traut er sich schon wieder raus?
    Sachen gibt’s die gibt’s gar nicht, haben wir früher gesagt.
    Ich glaube, ich bin hier falsch.

  7. Plindos sagt:

    ThorHa@: Huch---jetzt hab ich...
    ThorHa@: Huch—jetzt hab ich entweder mich selbst oder Sie auf dem falschen Bein erwischt. Sofern Sie diesbezügl. mal bei Gelegenheit einen kleinen Essay über Strategiespiele liefern, so liesse ich ja möglicherweise partiell von meiner damnatio ab 😉

  8. Rührfisch sagt:

    Interessanter Blickwinkel,...
    Interessanter Blickwinkel, auch wenn ich ihn in einigen Punkten etwas zu extrem empfinde.
    Das Internet wird vermutlich immer mehr Möglichkeiten bieten sich um Partnerschaften oder Jobs zu bemühen, aber sollte es sich in Richtung der einzigen Möglichkeit Entwickeln einen Job oder etwas anderes zu erlangen würde sich vermutlich schnell Widerstand regen, wie er hier bereits anklingt.
    Der Gruppenzwang unter Jugendlichen ist allerdings nicht zu unterschätzen, weswegen immer mehr Zeit im Internet verbracht wird. Allerdings gibt es auch Gruppenzwang bei Beschäftigungen außerhalb des Internets. Partys lassen sich nun mal kaum online feiern. Vielleicht ist nicht gerade positiv, dass hier ebenfalls Gruppenzwang existiert, aber es ist dennoch eine Ausnahme…

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