Formfrei

Bilder lügen nie, Bildermacher immer

Zwei sehr interessante Beiträge der FAZ thematisieren dieser Tage das zentrale Problem der Kommunikation: Die Unterscheidung von Mitteilung und Information. Bereits am Samstag schrieb die Berliner Kunstgeschichtlerin Charlotte Klonk unter dem Titel „Warum wir trotzdem Bilder brauchen„, dass Bilder, obwohl manipulierbar, nach wie vor vonnöten seien, um 

„das Leben der Anderen besser verstehen zu können. Wir brauchen Sie zur reinen Anschauung, nicht weil wir einen unmittelbaren direkten Nutzen damit verfolgen können, wie auch immer rational begründet (Beweis) oder emotional motiviert (Sensationslust, Rache, Schändung etc.). Dazu bedarf es nicht das Bild des toten Usama Bin Ladins, sondern Fotos, die die Umstände seiner Existenz vor dem Kommandoeinsatz der Navy Seals zeigen. Wenn wir dachten, dass der gefährlichste Mann der Welt wie ein wildes Tier in den Höhlen von Tora Bora hauste, sehen wir nun eine mehr oder wenige gewöhnliche zweistöckige Villa. Wo wir provisorische zeltlagerähnliche Zustände erwartet hätten, erfahren wir von einem Leben mit Frauen und Kindern, von einer Nacht im Doppelbett und selbstverliebten Abenden im Sessel vor den eigenen Videobotschaften (…)“

Wie unschwer zu erkennen, war der Anlaß zu Klonks Text die mediale Aufarbeitung der Tötung von Usama Bin Laden. Insbesondere der Umstand, dass vom toten Terrorpaten keine Fotos veröffentlicht, sondern nur eine Kollektion der „funniest home-videos“ ins Netz gestellt wurde, fand ihren Zuspruch. Fotos könne man digital fälschen, das wisse heute jedes Kind, aber nichtsdestotrotz erführen wir mit ihnen eine „richtigere“ Realität als ohne, insbesondere dann, wenn die Kamea nicht auf die große Bühne, sondern auf die Nebenschauplätze, die kleinen Details, gerichtet wird:

„Es sind die unbedeutenden Details, nicht die in Szene gesetzten großen Ereignisse, auf die es ankommt. Genau dafür brauchen wir nach wie vor besonders die fotografischen Bilder.“

Dass Klonk das erste Zitat ausgerechnet mit dem Titel eines bekannten deutschen Films einleitet, in dem die Problematik selektiver Kommunikation eine zentrale Rolle spielt, sei hier nur am Rande vermerkt. Ich werde später noch darauf zurückkommen. Vorher sehen wir uns den zweiten Beitrag an: Er stammt von Marcus Jauer, aus der FAZ von heute (online noch nicht verfügbar), und nimmt sich einen ganz anderen Vorgang zum Anlass. Bei Jauer geht es um die Frage, ob echte „Reportagen“, wie man sie sich landläufig vorstellt, überhaupt (noch) möglich sind. Auslöser seines Artikels ist die Aberkennung des Henri-Nannen-Preises an den Spiegel-Reporter René Pfister, der CSU-Zampano Horst Seehofer glückselig im Kreis seiner Spielzeugeisenbahn portraitierte, die er mit eigenen Augen jedoch nie gesehen hatte. Für die Jury nachträglich unterhalb des Zulässigen, wenn man schon über eine solche Eisenbahn schreibe, dann müsse man sich mit eigenen Augen davon überzeugt haben, dass es sie tatsächlich gibt. Jury-Mitglied Helmut Markwort im O-Ton:

„Von einer Reportage erwarte ich atmosphärische Erzählung, dass der Autor viel beschreibt, was er selbst gesehen hat. Und nicht nur vom Hörensagen. Dass Pfister sich auf Seehofer selbst beruft, legt den Verdacht nahe, dass er Seehofers PR auf den Leim gegangen ist.“

Jauer greift Markworts Kritik in seinem heutigen Beitrag offenbar auf, wenn er schreibt:

„Die Idee ist zuerst einmal eine sympathische. Ein Reporter soll raus auf die Straße, an den Mann, wie es heißt, man könnte auch sagen, in die Wirklichkeit. Er soll den Stoff, über den er schreibt, nicht dem Theater, Kino oder Fernsehen abschauen, in einem Buch lesen oder von einer Platte gehört haben, wo diese Wirklichkeit ja immer schon durch die Hände eines Künstlers gegangen ist. Er soll sich ein eigenes, ein unbearbeitetes Stück aus der Welt schneiden und in die Zeitung tragen. Das ist die Idee, aber dahinter steht schon ein Irrtum. Als ob es so etwas wie eine unverfälschte Wirklichkeit gäbe, die sich finden und dann beobachten ließe. (…) Wer zehn Reporter zu einem Ereignis schickt, wird zehn verschiedene Geschichten bekommen. Keine davon muss falsch, jede kann authentisch sein, sogar wahr – wenn man es so groß sagen will -, und trotzdem sind sie alle verschieden. Ausgerechnet derjenige, der dafür bürgen soll, dass sich alles genau so zugetragen hat, wie es geschrieben steht, scheint dafür der schlechteste Zeuge zu sein.“

Aus dieser Passage spricht natürlich nicht nur Jauer, sondern auch der selige Heinz von Förster, der in einem Vortrag vor Journalisten einmal mahnte: „Sie können es nicht sagen, wie es ist; sondern es ist so, wie sie es sagen!“ Darin liegt die Krux. Was wir von der Realität wissen, wissen wir aus den Massenmedien (Luhmann); die Massenmedien können aber Realität im eigentlichen Sinne nicht berichten, sondern nur „konstruieren“. Das können sie auf mehr oder minder professionelle Art und Weise, und was dabei herauskommt ist dann mehr oder minder „wahr“, aber wie es schon Jauer auf den Punkt bringt: In einer prinzipiell undifferenzierten Welt gibt es sehr viele „Wahrheiten“ – und die „wahre Wahrheit“ liegt damit im Auge des Betrachters.

Kommen wir damit zurück an den Ausgangspunkt: die Differenz von Mitteilung und Information. Wer etwas mitteilen will, muss sich zunächst einmal über zwei Dinge klarwerden, noch bevor er überhaupt den leisesten Mucks von sich gibt:

1) Was taugt überhaupt als Information? Über welche Beobachtung soll ich was erzählen? (im Sinne von: ein Fußballspiel, das Wetter, den kürzlich gesehenen Kinofilm, den gestrigen Banküberfall, den Liebeskummer, usw..)

2) Was davon soll ich konkret mitteilen? Sprich: Welchen Ausschnitt aus der Information soll ich, sobald ich mich auf die einmal festgelegt habe, berichten? (im Sinne von: Torszene, Temperatur und Niederschlagsmenge, Szenen aus dem Film und wie sie auf einen wirkten, usw..)

An diesen beiden Unterscheidungen kommt der Initiator von Kommunikation, sei es der Reporter, der Freund oder die Nachbarsfrau in der Warteschlange vor der Supermarkt-Kasse, nicht vorbei: Er muss gleich 2x wählen, was er sagt/schreibt/welches Bild er bring. Das erste Mal die Information als einen Ausschnitt von „Welt“; das zweite Mal die Mitteilung als einen Ausschnitt dieses Ausschnitts.

Der springende Punkt dabei: Der Adressat der Kommunikation, der „Empfänger“, wie es üblicher Weise heißt, weiß das! Versteht das! Versteht, dass er nicht „Welt“ mitgeteilt bekommt, sondern lediglich den Ausschnitt eines Ausschnitts von Welt. Und wenn er das nicht versteht, dann kommt „Kommunikation“ (zumindest im luhmannschen Sinne) überhaupt nicht zustande. Ob Kommunikation „erfolgreich“ ist, hängt also davon ab, dass sie als Kommunikation verstanden wird: als Differenz von Mitteilung und Information. Und zwar beim Empfänger, nicht beim Sender! Der Empfänger versteht Kommunikation, indem er die beiden Unterscheidungen des Senders, mit denen die Information (auch: das „Thema“) und dann daraus die Mitteilung erzeugt wird, nachvollzieht. Tut er das nicht, dann mag alles mögliche vorliegen, aber keine Kommunikation.

Und hier nun die Bad News: Der Empfänger vollzieht zwar die beiden Unterscheidungen nach, die bereits der Sender vor ihm getroffen hat; aber keinesfalls auf die gleiche Art und Weise. Das ist, aufgrund unterschiedlicher psychischer, emotionaler und sozialer Prädispositionen bei Sender und Empfänger, gänzlich ausgeschlossen. Der Empfänger wird sowohl die Mitteilung als auch die dahinter stehende Information aus seinem Blickwinkel beurteilen und sich die Frage stellen (bewusst oder unbewusst): Warum wurde mir ausgerechnet dieses mitgeteilt und nicht was anderes? Was war da noch, was nicht in der Nachricht enthalten ist? Warum wurde ein solches Bild gewählt und nicht ein anderes bzw warum wurde überhaupt ein Bild mitgeschickt oder eben keines? Dies alles Fragen, die wir in den letzten Tagen zuhauf vernommen haben, in Kommentaren, in Leserbriefen, in Blogs und Internetforen. Nehmen wir zum Beispiel das Foto der Runde im Weißen Haus, das die betroffenen Mienen während des Einsatzes gegen Bin Ladin zeigt: Mit Sicherheit war dieses Foto nicht das einzige, das der Fotograf während der Sitzung geschossen hat; und mit Sicherheit wurde dieses Foto nicht einfach so, sondern ganz gezielt zur Veröffentlichung ausgewählt, dieses und kein anderes; zum Beispiel eines, das die beteiligten Offiziellen fröhlich lachend zeigt, nicht notwendiger Weise zur exakten Zeit, als Bin Ladin erschossen wurde, sondern vielleicht 10 Minuten vorher. Denn zu welch gänzlich anderen Eindrücken hätte das geführt, wenn der tödliche Einsatz mit dem Bild einer feixenden US Regierungsmannschaft assoziiert würde, statt mit angespannten Gesichtern und der aufgekratzten Betroffenheit Hillary Clintons, aus dem man förmlich lesen kann: „Oh mein Gott, wie schrecklich – aber es musste eben sein!“

Hätten wir einen Reporter im Weißen Haus gehabt und hätte dieser vom Ereignis auch uneingeschränkt berichten dürfen (was höchst unwahrscheinlich ist), wer weiß, was wir dann erfahren hätten. Aber jedenfalls nicht „die“ sondern auch nur „seine“ Wahrheit, die, da mag man Objektivität und Unvoreingenommenheit behaupten bis zum Sankt Nimmerleinstag, davon geprägt gewesen wäre, welche Einstellung gegenüber dem War on Terror er vertritt, wie die Gruppendynamik dieser abendlichen Runde auf ihn wirkte, welche Teile der Satellitenübertragung ihn emotional besonders berührten, und so weiter und so fort. Zwar bekämen wir seine Wahrheit nicht als die einzige Wahrheit serviert, aber immerhin: In der Unterscheidung von Mitteilung und Information wären wir zumindest eine Runde näher an den Ursprung der Realitätskonstruktion gerückt, der Ausschnitt von Welt bezieht sich jetzt tatsächlich auf eine selbst erlebte Szene und nicht darauf, wie ein früherer Beobachter diese Szene erlebt hat.

Ist damit sehr viel gewonnen? In einer ganz und gar medial vermittelten Welt offenbar nicht, denn auch der unbestechliche Reporter im Weißen Haus hätte das Gros seiner Eindrücke auf eine medial, nämlich per Satellitenübertragung, vermittelte Realität beziehen müssen. Was natürlich die Frage aufwirft: Worauf waren die Satellitenkameras vorort gerichtet und worauf nicht? Unser Reporter, sofern objektiv und unbestechlich, hätte diese Differenz von Mitteilung und Information womöglich in seine Reportage einfließen lassen; hätte darin die Frage thematisiert: „Was habe ich auf dem Bildschirm zu sehen und zu hören bekommen und was nicht?“ Mitunter für den Leser/Seher/Hörer seiner Reportage also ein echter Mehrwert. Wäre unser Reporter hingegen direkt im Einsatz mit dabei gewesen, in besagter Villa in Abottabad, dann fiele die mediale Vermittlung zwar weg; dann hätte er „es“ mit eigenen Augen gesehen. Dieses „es“ wäre aber dann, ganz so, wie Jauer es darstellt, eben nicht der Einsatz „an sich“ gewesen, wie die klassische Ontologie behaupten würde; sondern lediglich der Einsatz, wie ihn unser Reporter zu Gesicht bekam (= als Ausschnitt) und wie er ihn als solches erlebte.

Wenn Helmut Markwort mit seiner Kritik also meint, dass die mediale Vermittlung in einer Reportage nur eine untergeordnete Rolle spielen und es in den wesentlichen Teilen auf das persönliche Erleben des Reporters ankommen soll, auf seine persönliche Art der Selektion von Information und Mitteilung, dann kann man ihm durchaus beipflichten; das eigentliche Problem, dass man der Wirklichkeit, der „wirklichen Wirklichkeit“ damit lediglich eine Iterationsstufe näher kommt, sie aber nie, nie, nie tatsächlich erreichen kann, ist damit nicht gelöst. Ob Text, Ton oder Bild: egal – das Problem ist immer das gleiche. Wenn Klonk daher schreibt, dass Bilder trotz ihrer digitalen Manipulierbarkeit ihrer Berechtigung hätten, dann verfehlt sie meines Erachtens den Punkt: Da wir die „echte“ Realität sowieso nicht kennen, ist es letztlich egal, ob ein bestimmter Ausschnitt, der uns als repräsentativ für diese Realität unter die Nase gehalten wird, nur durch Selektivität oder durch digitale Verfälschung überzeugen soll. Natürlich lügt derjenige, der ein Foto fälscht, von vornherein; aber derjenige, der ein oder mehrere Fotos mit einem ganzen Kontext gleichsetzt und behauptet: „So ist es (gewesen)!“, lügt nicht minder.

Die mobile Version verlassen