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An dieser Stelle bloggt Publizist und FAZ-Autor Thomas Strobl über die großen und kleinen Dinge des Lebens. Mal kurz und knapp. Mal mit vielen

Berg der Tränen

| 5 Lesermeinungen

Das Wasser fließt in Strömen von den Hängen des Pico da Vara, dem höchsten Berg der Azoreninsel Sáo Miguel. Tränen gleich, die über das Gesicht rollen, wenn man einen geliebten Menschen verliert. So wie es am 28. Oktober 1949 passierte - genau an dieser Stelle.

Das Wasser fließt in Strömen von den Hängen des Pico da Vara, dem höchsten Berg der Azoreninsel Sáo Miguel. Tränen gleich, die über das Gesicht rollen, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Das Haupt des Gebirgszugs ist die meiste Zeit in dichte Wolken gehüllt, die an den baumlosen Felswänden kondensieren und sie mit einem üppigen Teppich aus Moosen und Farnen überziehen. Über diesen steigt man hinauf  bis knapp unterhalb des Gipfels, nachdem man den Lehmpfad, der den Zedernwald durchschneidet, hinter sich gelassen hat; und steht kurze Zeit später vor dem Gedächtniskreuz. Die tief hängenden Wolken geben den Blick darauf nur allmählich frei: Erst nachdem man sich bis auf wenige Schritte genähert hat, erkennt man es hinter Grashügeln,  inmitten einer kleinen Aufpflanzung; und vermag die Inschrift zu lesen, die daran erinnert, dass hier, genau an dieser Stelle auf dem Planalto dos Graminhais, der Hochebene der Gräser, am 28. Oktober 1949 etwas Schreckliches passiert ist.

Bild zu: Berg der Tränen

An besagtem Tag vor 52 Jahren, drei Stunden nach Mitternacht, lag der Pico da Vara ebenfalls in Wolken. Warum die Lockheed Constellation der Air France sich in seine tödliche Nähe verirrte, ja, warum der Pilot überhaupt Kurs auf die Insel Sáo Miguel nahm, statt wie geplant um 02:51 Uhr auf dem benachbarten Eiland Santa Maria zu landen, weiß man nicht. Auf Santa Maria befand sich die Piste, die von den Transatlantikflügen der damaligen Zeit für die obligatorische Zwischenlandung genutzt wurde; ein gutes Stück entfernt von Sáo Miguel und den tückischen Gefahren des Pico da Vara. Keiner der 48 Insaßen überlebte, als die Maschine an den Felsen zerschellte; darunter die berühmte Violistin Ginette Neveu und Marcel Cerdan, der regierende Boxweltmeister im Mittelgewicht.

Bild zu: Berg der Tränen

Letzterer sollte eigentlich gar nicht in diesem Flugzeug sein: Nach einem Schaukampf im französischen Troyes wollte der französische Champion den Atlantik ursprünglich per Schiff überqueren. Um in New York bei seiner Geliebten zu sein. Doch die überredete ihn am Telefon, das Flugzeug zu nehmen; sie wollte die Zeit bis zum ersehnten Wiedersehen verkürzen. Am Abend des 28. Oktobers würde sie im „Versailles“ auftreten, der Geliebte könnte rechtzeitig bei ihr sein, um der Vorstellung beizuwohnen. Cerdan bemüht sich daraufhin um einen Platz auf der ausgebuchten 21 Uhr Maschine der Air France von Orly nach New York. Ein Paar, das gerade seine Hochzeitsreise antreten wollte, zeigt Verständnis für den prominenten Liebenden, überlässt ihm und einem Mitreisenden die Tickets; und rettet dadurch, ohne es freilich zu wissen, das eigene Leben. Während Cerdan einen der letzten Plätze ergattert – auf dem Flug in den Tod. Am darauffolgenden Abend wird seine Geliebte, Edith Piaf, tatsächlich im New Yorker Cabaret „Versailles“ auftreten; aber sie wird vor Kummer auf der Bühne zusammenbrechen. Die Legende will es, dass der Schicksalsschlag und die Selbstvorwürfe, die sie ob ihres verhängnisvollen Drängens dem Geliebten gegenüber verfolgten, ihren eigenen Verfall beschleunigten: 14 alkohol- und drogenträchtige Jahre später sollte sie der Liebe ihres Lebens in den Tod folgen. Ihre „Hymne à l’amour“, in der sie ihre Gefühle für Cerdan musikalisch zum Ausdruck bringt, wird angesichts der Begleitumstände, die Frankreich und die Welt ergreifen, zu einem der bewegensten Chansons der französischen Musikgeschichte.

[View:https://www.youtube.com/watch?v=1gTGmbA40ZQ&feature=related:530:300]

« Si tu meurs, que tu sois loin de moi, peu m’importe, si tu m’aimes, car moi je mourrai aussi » heißt es in dem Stück, das die Piaf am 2. Mai 1950 aufnimmt; « Ob du stirbst, ob du mir fern bist, es ist nicht wichtig, wenn du mich liebst, denn ich werde ebenfalls sterben ». Sie sollte Recht behalten.

 

(Foto Credits: Familienarchiv Cerdan by Creative Commons, Thomas Strobl)

 


5 Lesermeinungen

  1. Der Tiger sagt:

    Guter Beitrag - wenn auch...
    Guter Beitrag – wenn auch melancholisch stimmend!

  2. osnova2000 sagt:

    Die lyrische Geschichte......
    Die lyrische Geschichte…

  3. Plindos sagt:

    Mehr als traurig und mir...
    Mehr als traurig und mir bisher unbekannt, diese Saga von der Edith Piaf. Das Schicksal schlägt oftmals blind (?) zu. So auch am Berg St. Odile in der Nähe von Straßburg.
    In dessen benachbarten Berg flog bei schlechter Sicht und im Instrumentenflug ein Airbus der Air Inter am 20.01.1992 hinein und zerschellte. Siebenundachtzig Passagiere kamen ums Leben, von denen nur Neun überleben konnten. Die Schutzheilige der Blinden, St. Odile, der das Kloster auf dem Berg St. Odile geweiht ist, konnte gegen das blind waltende Schicksal wohl nicht an.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Odilienberg
    https://www.auge-online.de/Wissenswertes/Schutzpatronin_der_Blinden/schutzpatronin_der_blinden.html

  4. fionn sagt:

    Here's the highly-regarded...
    Here’s the highly-regarded chansonnière Isabelle Boulay.
    https://www.videoportal.sf.tv/video?id=023cbdf9-20ae-46e8-8f63-ec1439332d09

  5. L'inconnu sagt:

    Wann ist man im Leben schon...
    Wann ist man im Leben schon auf Rosen gebettet?
    https://www.youtube.com/watch?v=0g4NiHef4Ks

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