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An dieser Stelle bloggt Publizist und FAZ-Autor Thomas Strobl über die großen und kleinen Dinge des Lebens. Mal kurz und knapp. Mal mit vielen

Europäische Einheit zum Preis nationaler Entfremdung?

| 11 Lesermeinungen

Eines verstehe ich bei der ganzen Griechenland-Retterei nicht: Welchen Wert hätte die sture Beibehaltung eines gesamteuropäischen Einigungskurses, wenn dieser...

Eines verstehe ich bei der ganzen Griechenland-Retterei nicht: Welchen Wert hätte die sture Beibehaltung eines gesamteuropäischen Einigungskurses, wenn dieser wachsende Polarisierung und Entfremdung in den beteiligten Nationalstaaten zur Folge hat? Denn eines scheint mir jetzt schon absehbar: Wenn sich der Rauch erst mal gelegt hat, die Milliarden geflossen und die Sparpakete den Griechen aufs Auge gedrückt worden sind, dann sind wir zwar weiterhin alle friedlich und freundlich durch die europäische Klammer verbunden; aber gleichzeitig halten wir die Griechen für faule Schweine und werden ihnen das per BILD und BAMS auch regelmäßig unter die Nase reiben; und die Griechen halten uns für gierige Geldsäcke, jedes Mal, wenn einer ihrer Politiker das Wort von den „Konsolidierungsmaßnahmen“ in den Mund nimmt oder die Rezession über die Bildschirme des hellenischen Primetime-TV huscht. Gleichzeitig vertieft sich auch innerhalb Deutschlands die Kluft zwischen denen, die unter Europa nie was anderes als eine Gemeinschaft der (autonomen) Vaterländer verstanden haben und jenen, die von vollständiger politischer Integration träumen.

Als einstmals glühender Anhänger der europäischen Einigung stelle ich ernüchtert fest, dass der wolkige europäische Traum womöglich zum Albtraum wird, sobald er mit der Tiefebene der Nationalstaaten in Berührung kommt. Und dann würde ich, zähneknirschend aber doch, lieber auf seine Verwirklichung verzichten.


11 Lesermeinungen

  1. ThorHa sagt:

    Danke, genau auf den Punkt...
    Danke, genau auf den Punkt gebracht. Wobei es obendrein noch die Art und Weise der Rettungspakete ist, die blanken Nationalismus (in Deutschland) befördert. Denn rein ökonomisch betrachtet gibt es angesichts von Griechenlands ÜBERschuldung noch genau zwei sinnvolle Wege für echte Hilfe, die sich für Deutschland auf einen verengen: Griechenland geht pleite und Deutschland übernimmt einen Teil der anschliessenden Nothilfe. Oder Griechenland wird ein Teil der Schulden erlassen, was Deutschland ebenfalls viele Millarden Euro kosten wird. So, wie das jetzt läuft, ist es ein Paradebeispiel für Richtungslosigkeit zum falschen zeitpunkt: In Krisen suchen Menschen Orientierung. Und genau dann muss Politik die Orientierung anbieten und nicht verweigern. Aber unabhängig davon ist eines sicher: Der Umfang und die Tiefe der derzeitigen EU-Ausweitung und -integration überfordert sichtbar bereits jetzt die Völker Europas. Der nächste Schritt, Verzicht auf eine eigenständige nationale Finanz- und Wirtschaftspolitik, wird der Schritt zuviel sein, der als Gegenreaktion offenen Widerstand innerhalb oder ausserhalb der Parlamente provoziert. Ich halte die europäische Einigung langfristig für überlebenswichtig. Aber dafür muss man die Menschen schon mitnehmen.
    Gruss,
    Thorsten

  2. Hubert sagt:

    Das Griechenland Problem wäre...
    Das Griechenland Problem wäre mit einigen einfachen Maßnahmen zulösen.
    Wir schenken den Griechen ein paar Drohnen, damit wird das Land gescannt. Daraus ergibt sich ganz schnell ein elektronisches Kataster. Die Hard- und Software schenken wir denen auch. Zur Not schicken wir auch Beamte, wie wir das mit Entwicklungsländern auch tun. Ebenso geschieht das mit den Yachten u. A. Die Besitzer der Wertsachen werden vor Ort festgestellt. (Zur Not Prämien für anschwärzten) Bleibt der Besitzer unbekannt, sind das Fundsachen. Die werden nach einem Jahr versteigert. Auch lässt sich nachträglich feststellen, wer so viel Geld verbraucht hat, dass der Tag 48 Stunden haben müsste, um das in Diamanten umzusetzen. Das Geld ist selbstverständlich auf den Bahamas oder sonst wo. Also nachträglich versteuern, das ist übrigens auch bei uns ein Problem (zu wenig Steuerprüfer). Die Finanzämter werden umgehend gestärkt.
    Dann muss man realisieren, dass die USA-Ratingagenturen nur von den noch größeren Problemen ihres Staates ablenken wollen. Wir gebrauchen auch keine eigene Agentur. Noch `ne Behörde. Wir strecken die Rückzahlung auf 20 Jahre mit 5% Zinsen. Sollen die Amis doch so viel raten die wollen. Nach zwei Jahren beginnt die Rückzahlung mit 3% der Schuldensumme. Das geht so lange bis die 60 % Verschuldung erreicht sind. Übrigens ich hätte gerne auf 20 Jahre 5% Zinsen, bei garantierter Rückzahlung.
    Schließlich gibt es einen Marschallplan. Wir kontrollieren, dass das Geld in Investitionen fließt. Bleibt die Frage wer das alles kauft, was dann angeboten wird. Die anderen Mittelmeerländer werden ganz schön jammern, wenn weniger Touristen zu ihnen kommen. Und wir auch, wenn wir weniger Industriegüter verkaufen. Also muss ein Länderausgleich her, so oder so müssen wir zahlen, dann aber vernünftig. Aus dem bayrischen „Armenhaus“ wurde auch ein reiches Land. Resümee: Mit wenigen vernünftigen Maßnahmen lässt sich vieles bewältigen.
    Die letzte Frage: Ist, wer will das? Das heißt nämlich, auch in den Geberländern geht es zur Sache. Und dort gibt es Wähler. Seit Kleist geht eben „Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht.
    Beste Grüße von dem, der noch immer an die Vernunft glaubt.
    Hubert

  3. Klaus Lücke sagt:

    Das europäischen...
    Das europäischen Friedensprojekt-Brimbamborium mit seiner belehrenden und mit erhobenem Zeigefinger vorgetragenen Völkerverständigungsrhethorik, seiner weinerlichen Symbolik (etwa das peinliche Händchenhalten von Kohl und Mitterand), seinen zahllosen Sonntagsreden, den Preisverleihungen für absurde Leistungen (etwa den Ankauf von Schrottanleihen, Karlspreis für den EZB-Präsidenten) und – vor allem – seine verfassungsrechtliche Verselbständigung („Europa als Staatsräson“ = das Projekt steht über den Gesetzen) hat mich besonders vor dem Hintergrund seiner volkspädagogischen Anmaßungen und der sich wie ein roter Faden durch das Projekt ziehenden deutschen Unterwerfungsgesten und seiner angeblichen „Alternativlosigkeit“ schon immer angewidert. Und so freut es mich, dass das Projekt inzwischen durch die Akkumulation von Falschversprechungen, Lügen und Vertragsbrüchen , trotz Milliardenvergeudung und einer wohl unausweichlich auf uns zu kommenden Transferunion das genaue Gegenteil von dem bewirkt, wozu es aus geschichtspolitischem Übereifer eigentlich instrumentalisiert worden ist: statt Völkerversöhnung (ohnehin nur eine typisch deutsche Hoffnung) schürt es im Gegenteil alte Feindschaften wieder neu, statt „Demokratie“ wurde eine demokratiefreie Zone etabliert und die nationalen Parlamente wurden durch eine Brüsseler Oligarchie entmachtet: Ein ist ein bloß „gut gemeintes“, aber letztlich nur künstlich von „oben“ aufgezogenes totalitäres System. Es wird Zeit, dass das Volk nicht nur in Athen, Libyen, Tunesien, Ägypten, Syrien … auf die Straße geht, sondern endlich auch bei uns !

  4. ThorHa sagt:

    @Klaus Lücke:
    Sehen Sie mir...

    @Klaus Lücke:
    Sehen Sie mir sprachliche Ausrutscher nach, aber die demonstrierte Halbbildung Ihres Beitrages, mit der Sie in Deutschland übrigens „Mainstream“ sind, regt mich einfach auf. Es gibt keine Brüsseler Oligarchie! Es gibbt eine Brüsseler Kommission und eine Brüsseler Bürokratie, die umsetzen, was in von nationalen Regierungen ausgehandelten, durch nationale Parlamente ratifizierten, Verträgen steht. Richtlinien schreiben, deren Grundsätze von nationalen Regierungsvertretern festgelegt wurden. Gelder verwalten, die von nationalen Parlamenten beschlossen wurden. Subventionen verteilen, deren Verteilungswahnsinn nationalen Gehirnen entsprang (besonders die Agrarsubventionen = Deutschland/Frankreich). Kurzum, Sie sind bereitwilliger Mittäter jener perfiden Legende, die von feigen nationalen Politikern erfunden wurde, die zu Hause nicht mehr für das einstehen wollen, was Sie (manchmal höchstpersönlich) in Europa beschlossen haben und gerne auf das böse „Europa“ verweisen, das einfach über uns gekommen ist, wie der Leibhaftige.
    Und auch sonst ist Ihre Polemik – mit Verlaub – wenig ausser polemisch. Deutsche Unterwerfungsgesten? Die unabhängige Europäische Zentralbank ist der Beweis deutschen Durchsetzungswillens an der richtigen Stelle. Volkspädagogische Anmassung? Werfen Sie mal einen Blick in die Geschichte – die letzte europäische Friedensperiode, die nicht ausschliesslich oder überwiegend der Vorbereitung des nächsten Krieges diente, herrschte von 1815 bis 1867. Wenn der Preis dafür ungezählte Sonntagsreden und ein bisschen geld ist, werfe ich erneut einen Blick in die geschichtsbücher, danach einen auf die Zustände auf jedem beliebigen anderen Kontinent – und halte den preis für so gering, dass Peanuts dagegen eine Übertreibung darstellt. Aber vermutlich haben jene Pessimisten hinsichtlich der menschlichen Natur recht, die schon lange sagen, uns fehlt ein anständiger Krieg mit einigen Dutzend Millionen Toten – wir sind gelangweilt und erlauben uns die abfällige Geringschätzung von historisch absolut beispiellosen Errungenschaften. Übrigens zuvorderst und zuerst für die „kleinen Leute“, die sonst immer als erstes leiden. Mögest Du in interessanten Zeiten leben – chinesischer Fluch. Es sind Leute wie Sie, die mit ihrer beispiellos verantwortungslosen Rhetorik diese interessanten zeiten heraufbeschwören, durch Kleinkariertheit, Aufgeregtheit über Nebensächlichkeiten und die Verbreitung von Bonzenrhetorik, wo es keine Bonzen gibt. Ein „totalitäres System“? Auch, wenn man das ja nicht soll – Ihnen wünsche ich ein echtes, hautnah. Dann können Sie in einem Arbeits- und Umerziehungslager seufzend über Ihre Rhetorik nachdenken. Wenn Sie leben, heisst das.

  5. ("Ihnen wünsche ich ein...
    („Ihnen wünsche ich ein echtes [„totalitäres System“], hautnah. Dann können Sie in einem Arbeits- und Umerziehungslager seufzend über Ihre Rhetorik nachdenken.“). Verstehe, Sie ziehen die ganz große Keule als letzte alles rechtfertigende Rückzugsposition der EU, ganz nach dem Motto: Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag‘ ich dir den Schädel ein ! Aber warum diese Drohung nicht mit offenem Visier ??

  6. fionn sagt:

    Arnie Schwarzenegger hat einen...
    Arnie Schwarzenegger hat einen neuen Job!! Heute wurde er in Wien (wo eine Konferenz „Erneubare Energie“ stattfand) zum „Global Ambassador for Renewable Energy“ erkoren.
    Arnie kann seine Arbeit m.M.n. in Athen beginnen – die Griechen können ein Vermögen sparen wenn sie 100% auf erneubare Energie umstellen.

  7. perfekt!57 sagt:

    Da müssen wir durch - der...
    Da müssen wir durch – der Traum geht weiter. Und Schritt für Schritt, Nacht für Nacht entwickeln, verwirklichen wir mehr von ihm – zu unser aller Wohl.
    Wir werden lernen aus dieser Krise, was zu lernen war. U.a. wohl auch dies: Am Ende ist eben auch eine Transferunion besser als garkeine.
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    Und wir werden Europa noch differenzierter kennenlernen: Welche Guppe in welchem Land gibt oder nimmt? Und dann wird erneut nachjustiert. Weil das muss.
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    Und klar liegt es auch an uns deutschen Spießern mit: Wer hat schon mal in den letzten Jahren persönlich-praktisch die Zeit genutzt, z.B. im Urlaub, mal morgens ab 03:30 kreuz und quer durch die europäischen Wirtschaftsregionen zu fahren? Zu schauen, wann die Volkswirtschaften in Gestalt des „Prolete“ arbeiten geht? Ab 03:30 geht es nur im Ruhrgebiet los: Deutschland ist imVergleich immer ein bis 1,5h voraus.
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    Unsere Rödelei in der Mitte ist Quelle und Zentrum des Ungleichgewichts. Objektiv. Und alles andere folgt daraus. Eben auch die Bewertungsunterschiede: Wer „fau“l ist, wer „normal“, wer „über“. (Und „wir“ haben in Griechenland zu lange nicht hingesehen, sind selber schuld: Wenn 2% auf einmal 140 Millarden sind, wer war dann blöd? … ist es unsere Schuld, können wir was ändern. Waren die anderen schuld, müssen wir die ändern. Was geht leichter?)
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    Wenn der Frieden andauerte, könnten auch wir Deutschen unser Tempo verlangsamen (objektiv können wir nicht, weil wir nicht können) auch auch mit 60 in Rente gehen, wie die anderen. Die Anstiegsgerade verliefe dann flacher. Was machte das aber angesichts weiterer 50 der 100 Jahre Frieden? .(.. und wenn wir als Quelle in der Mitte weniger sprudeln, müssen die anderen mehr…)
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    Jedes Zusammengehen ist Kennenlernen und Ausgleich, immer. (Darum auch hält sich Aristokratie besonders. Wir sind aber nicht die europäische Aristokratie, sondern gleich. Sonst gibts Krieg.)
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    Man suche auf einem ausländischen Rasthof (in Frankreich, Spanien) das Gespräch mit einem polnischen, tschechischen, slowakischen oder ukrainischen LKW-Fahrer, der Produkte, Routen, Firmen (Hintereingänge vor- oder nach Büroschluss!) und das Betriebsklma überall täglich selber erfährt: Der wird sagen „Ihr müsst Euch über anderen nicht beschweren, die Abgesandten Eurer Arbeitgeber treten bei uns ja auch wie die Neuen Kolonialherren auf, bei uns ist immer alles zweiter Klasse – und soll auch so bleiben anscheinend, damit ihr weiter auf uns runter sehen könnt.“ (die ewig alten Vorurtelie pflegen…)
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    Ich kenne fast keinen bürgerlichen Spießer (schreibend oder nicht – hier ist allerdings keiner gemeint), der tatsächlich in der Lage wäre, ganzheitlich zu urteilen, gerade auch volkswirtschaftlich über Klassengrenzen hinweg sich persönlich zu informieren. (Das nicht zu müssen, nicht zu brauchen, es aber trotzdem besser zu wissen, ist eben sein Privileg – und macht ihn unsterblich den Spießer. (Der fährt in der Zeit und von dem Geld besser teuer in Urlaub, weil er es sich leisten kann – und trifft wieder nur Seinesgleichen))
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    Und wenn die jammernden deutschen Mittelschichtmenschen bloß begreifen könnten, dass sie eh schon und immer für alle und alles mit arbeiten gingen, es bloß auch weiter machen sollen und werden – und dieser Preis vergleichsweise gar nicht so hoch ist. (Sondern gering… )
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    Und es bleibt als nächstes Nordafrika mit in den Traum einzubeziehen: Von Casablanca bis Kairo möchten und sollen die Leute auch einheitlich und freizügig leben – demnächst vielleicht sogar mit nur einem Pass – und im Verhältnis zu uns als „privilegierte Partenerschaft“.
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    Was Frau Merkel heute in Polen gemacht hat – stellvertretend für alle, die Stellvertretung brauchen – das war Klasse. Einmal mehr hat sie sich um das Deutsche Volk verdient gemacht. (… denn wir sind mehr, als die Summe unserer Pfeffersäcke.)

  8. fionn sagt:

    Die Deutschen halten die...
    Die Deutschen halten die Griechen für faule Schweine? Die Schotten mögen die Engländer auch nicht, und in der Deutschschweiz, „GE“ = Gueule Elastique, VD = VollDubeli – doch ZH = Zwei Hirne (natüürlich).

  9. Devin08 sagt:

    Und wenn die Geschichte sich...
    Und wenn die Geschichte sich doch wiederholt
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    @Strobl: Ich befürchte, es gibt kein zurück. Lenin meinte schon, dass ein kapitalistisches Europa entweder unmöglich oder ein reaktionäres Unterfangen – https://blog.herold-binsack.eu/?p=1627 – ist. Dennoch würde wohl auch ein Lenin, würde er heute leben, erkannt haben, welche Evidenzen der 2. Weltkrieg hinterlassen hat, resp. die dadurch veränderten Klassenkräfte.
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    Anders wäre es vielleicht gekommen, wenn es der Sowjetunion Stalins gelungen wäre, mit ihrer Offerte zu einem einigen und unabhängigen Deutschland die Westbindung Westdeutschlands und damit die Entstehung der DDR zu verhindern. Ein „Europa“ ohne Deutschland wäre ein Unding gewesen. Und die Teilung Europas ohne die Teilung Deutschlands ebenfalls. Und genau diese Teilung ist der Beginn des sog. Vereinigten Europas – als reaktionäres, und wie es scheint quasi unmögliches Projekt. Lenin hatte wohl Recht, aber lieber wäre es mir, wenn er sich geirrt hätte. Und das sage ich als Marxist. Denn möglicherweise offenbart dieses Europa erst im Prozess seines Scheiterns seine ganze reaktionäre Potenz.
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    Zunächst einmal hat Deutschland seine Vorkriegspolitik hierin quasi fortsetzten können. Allerdings ganz anders, unter Auswertung aller negativen wie auch „positiven“ Erfahrungen.
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    Um das zu verstehen, müssen wir erst einmal begreifen, was Europa überhaupt ist. Das Kernstück der europäischen Politik nach dem 2. Weltkrieg schien der Zusammenschluss französischer wie deutscher Interessen um die Montanindustrie zu sein. Doch die war eigentlich schon erledigt. Das wusste damals aber noch keiner. Und es dürfte aufgefallen sein, dass die Hauptsubventionen an die Landwirtschaft geflossen sind und weiter fließen. Bis auf jetzt vielleicht – in der Ära des Niedergangs der EU. Der Zusammenschluss innerhalb der Montanindustrie hat die deutsch-französische Konkurrenz gewissermaßen neutralisieren helfen. Kurz sah es so aus, als hätten die Franzosen ihren alten Traum von einer vereinigten Stahl- und Kohleindustrie (resp. heute Energieindustrie – https://blog.herold-binsack.eu/?p=748), resp. separaten Rheinunion durchgesetzt. Dennoch haben die Franzosen unter diesem Schutzschild es „nur“ geschafft sich ihre weitestgehend bäuerliche Landwirtschaft zu erhalten. Was aber nur zur Folge hatte, dass die Modernisierung der Landwirtschaft in Frankreich eigentlich immer noch aussteht.
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    Dennoch ist das in Frankreich der politische (der wirtschaftliche) Preis für eine konservative Ausrichtung der französischen Nation, und damit zugleich die Garantie auf eines Frankreichs Untergang neben eines Deutschlands wachsender Macht. Der Preis wohl dafür, dass die Atomindustrie bis auf weiteres in Frankreich das Sagen hat. Die Kalkulation der französischen Bourgeoisie, nämlich ihre Köpfe solange fest aufsitzen zu haben, wie die französischen Bauern ihre Produkte nicht alleine aufessen müssen scheint wohl aufgegangen, dennoch wird mit dem Untergang der Atomwirtschaft Frankreichs endgültige, solchermaßen dann auch wirtschaftliche Abrüstung nicht mehr zu vermeiden sein.
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    Anders in Deutschland. Deutschland nutzte dieselben Subventionen um die Kleinbauen zu „legen“. Also eine starke Agrarindustrie – https://blog.herold-binsack.eu/?p=1352 – aufzubauen. Um das rückständige Europa unter seine Fittiche zu bekommen. Und da finden wir die Linie zur Vorkriegspolitik.
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    Ich fasse es kurz: Die Nazis kamen an die Macht, nicht weil die IG-Farben das so wollten – das vielleicht auch, aber viel später. Nein, weil die Agrarindustrie es nicht schaffte mit sog. friedlichen Mitteln einer expandierenden Stahl- und Kohleindustrie, bzw. einer noch jungen Maschinenbauindustrie das Tor zum Osten zu öffnen (die Chemie- resp. „Farbenindustrie“ konnte damit noch gut leben, denn ihre Absatzgebiete waren damals schon der Weltmarkt – resp. die USA).
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    Die deutschen Bauern wurden, ob des Bündnisses zwischen der Agrar- und Maschinenbauindustrie mit den deutschen Regierungen in der Weimarer Republik, gezwungen sich mit einer wachsenden, dennoch darbenden Billigkonkurrenz aus dem Osten zu arrangieren, während sie gleichzeitig durch einen festen – teils subventionierten – Milchpreis, das wachsende, dennoch ständig hungernde, deutsche Industrieproletariat mit zu unterhalten hatten. Nur so, und das war die Kalkulation der deutschen Industrie, konnte der Lohn niedrig gehalten und damit die ebenfalls subventionierte Exportoffensive in Richtung Osten, durchgesetzt werden. Doch verfehlte diese Rosskur ihr Ziel. Nur auf der Grundlage eines „erfolgreichen“ Bauernlegens im europ. Osten, mit der Folge, dass dort sich eine industrielle Infrastruktur hätte entwickeln können, wäre es der deutschen Industrie möglich gewesen, ihre Produkte dauerhaft dort abzusetzen. Stattdessen verelendeten dort die bäuerlichen Massen, während zugleich eine nationale Industrie – eben aufgrund der subventionierten deutschen Konkurrenz – sich gar nicht erst bilden hat können. Das deutsche Kapital wurde aber von den dortigen nationalen Kräften entweder als Schmutzkonkurrenz oder als Aggressor aufgefasst. Das untergrub die politische Situation im gesamten europäischen Osten.
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    Aufgrund der extremen Rückständigkeit dieser Länder in Kombination mit den dadurch geschaffenen nationalrevolutionären oder auch konterrevolutionären Tendenzen (der ganze Osten war entweder bolschewistisch oder faschistisch), und auch infolge des Verlustes des eigentlich wichtigsten Absatzmarktes für die deutsche Agrar- und Maschinenbauindustrie durch die bolschewistisch gewordene Sowjetunion (und das machte das deutsche Kapital damals schon besonders reaktionär und kriegslüstern – https://blog.herold-binsack.eu/?p=858 ) konnten sich schließlich die „friedlichen“ Visionen der deutschen Industrie nicht erfüllen. Ganz im Gegenteil. Die reaktionären Stimmungen im destabilisierten europäischen Osten wirkten zurück auf solche im eigenen Land. Und hier drückte das deutsche Volk ein quasi „Kolonialregime“ genannt „Versailler Friedensvertrag“. Das deutsche, bis dato vielleicht noch liberale, Kapital schuf sich durch seine friedliche Exportoffensive (die in vielerlei Hinsicht der heutigen – innerhalb und außerhalb der EG – ähnlich ist) seinen stärksten Gegner – im eigenen Land. Denn durch genau diese Politik der friedlichen Infiltration des europäischen Ostens verarmte nicht nur dieser Osten, sondern gleichermaßen die von der Landwirtschaft lebende und solchermaßen von extrem reaktionären Großgrundbesitzern abhängige Bevölkerung in Deutschlands Osten. Das wiederum brachte auch die französische Konkurrenz auf den Plan, die noch all zu gut in Erinnerung hatte, wozu ein solch deutsch-nationalistisches Potential fähig ist. Außerdem opponierte dieses Potential immer kräftiger gegen das Versailler Diktat, was vor allem der französischen und solchermaßen konservativ strukturierten Industrie und Landwirtschaft helfen sollte, sich gegen ein deutsches Hegemoniestreben zu behaupten.
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    Das deutsche Kapital forderte schließlich vom deutschen Staat für seine Ostevents Gewinngarantien. Diese aber konnte der bereits der Implosion nahestehende deutsche Nach- wie Vorkriegsstaat nicht mehr abgeben, denn diese hätten nur durch eine Rüstungsoffensive untermauert werden können. Es gab in Deutschland Tendenzen sich mit Frankreich diesbezüglich zu einigen, was damals aber bedeutet hätte, auf einen Teil Deutschlands zu verzichten. Wir kennen die Diskussionen um die Ruhrkrise. Nachdem dort die separatistischen Aktionen scheiterten, gingen daraus eigentlich nur die deutsch-nationalistischen Kräfte gestärkt hervor. (Bei dieser Gelegenheit verweise ich auf den gescheiterten Versuch der Kommunisten, sich in diesem Saarkonflikt, in Konkurrenz zu den deutschnationalen Kräften, als Widerstandskraft anzubieten. Mag sein, dass der Kampf gegen den Faschismus hier schon verloren war). Aus Sicht des deutschen Kapitals kam nämlich – spätestens nach 1929, insbesondere infolge der Überproduktionskrise in den Agrar- und Rohstoffländern (vgl.: Dokumente zur deutschen Geschichte 1929 – 1933, I. Aus dem Jahresbericht des Vorstands der Deutschen Bank und Disconto-Gesellschaft für 1929, S. 17, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften Berlin 1975) nur noch eine Option in Frage, die Krieg bedeutete. Krieg gegen Frankreich, der wie gesagt 1923 im Ruhrkonflikt sich schon mal vorgewärmt hatte, Krieg gegen die Sowjetunion, der für Deutschlands Agrarinteressen existenziell zu sein schien, und die Neutralisierung Englands, bzw. dann auf dieser Grundlage eine Übereinkunft mit den USA (letzteres lag vor allem im Interesse der deutschen Chemieindustrie, worum auch die IG-Farben erst recht spät zu den Nazis stieß).
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    Es kam bekanntlich anders. Es gelang den Sowjets dieses Komplott durch den sog. deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt – https://blog.herold-binsack.eu/?p=922 – zu verhindern, die Antihitlerkoalition, wenn auch unter Mühen und großen Opfern, zu installieren und somit Deutschland durch die vereinten antifaschistischen Mächte zu schlagen.
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    Deutschland hat daraus gelernt. Es musste als erstes die Franzosen beruhigen. Daher die Montanunion als Kernstück des Nachkriegseuropas. Dann musste, vor allem infolge der Abtrennung des deutschen Ostens, die bäuerliche Landwirtschaft beseitigt werden. Diese hatte nämlich durch Rumpfdeutschland ihren Sinn verloren. Stattdessen wurde der Aufbau einer schlagkräftigen und exportgierigen Agrarindustrie voran getrieben. Und genau diese ist das Kernstück der deutschen europäischen Exportoffensive. Denn auf der Grundlage genau dieser Agrarindustrie, schaffte es das deutsche Kapital den europäischen Markt und desweiteren den Weltmarkt für seine Industrieprodukte – vor allem auf dem Gebiet des Maschinenbaus – endlich zu öffnen. Erst Milchpulver, dann landwirtschaftliche Maschinen, dann Panzer. Das ist in etwa das Geheimnis des „Exportweltmeisters“.
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    Dies allein ist für Deutschland Grund genug sich für die Erhaltung genau ein solchen Europas einzusetzen. Mit allen Mitteln, und mit dem größtmöglichen finanziellen Aufwand, wenn es sein muss.
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    Doch, und jetzt kommen wir zu der Geschichte, die sich vielleicht doch wiederholt, wenn auch nur in gewissen Nuancen. Der Aufwand kann so groß werden, dass die „Profitgarantie“ (siehe oben) nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, ohne dass das Projekt zu aufwendig werden würde. Dann schlachtet das Finanzkapital eben sein wichtigstes Kind: die Agrarindustrie. Nicht nur, dass dann halt nur noch mehr Panzer verkauft werden würden, sondern dass dann wieder, und dies jetzt vor dem Hintergrund eines vereinten Deutschlands unter völlig anderen Klassenverhältnissen, enorme reaktionäre Kräfte frei gesetzt werden. Griechenland – https://blog.herold-binsack.eu/?p=1662 – könnte dafür der Einstieg sein. Und wir beobachten gerade, wie der „Wutbürger“ schon mal schnaubt.
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    Und wenn das passiert, könnte sich das Vorkriegsspektakel gewissermaßen wiederholen. Das deutsche Kapital könnte auf selbstverführerische Gedanken kommen. Gewinngarantien – nicht nur für die Banken, sondern für eine dann kriselnde Agrar- und Maschinenbauindustrie.
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    Dieses Szenarium ist natürlich nur ein Modell, das die weltweiten Konkurrenzverhältnisse, vorneweg zu den USA, aber auch zu China, Russland und Indien (Japan scheint vorerst ausgeschaltet, so gesehen war Fukushima gleich ein doppelter „Glücksfall“, erstens: weil dadurch die französische Atommacht geschwächt wird und zweitens: weil der bisher stärkste Konkurrent im fernen Osten für lange Zeit ausscheidet) nicht mit einbezogen hat. Eine Analyse genau dieser neuen internationalen Lage, nämlich der vor dem Hintergrund der Finanzkrise, der Eurokrise, der Krise der Atomwirtschaft und in diesem Kontext, bzw. neben diesem, den Krisen in der arabischen Welt, resp. revolutionären Krisen infolge einer neuen weltweiten Jugend- und Frauenbewegung, ist nicht nur überfällig, sondern wäre auch genau das Instrument, das helfen würde, den Gefahren eines nun aufziehenden 3. Weltkrieges – https://blog.herold-binsack.eu/?p=807 – vielleicht noch rechtzeitig zu begegnen. Doch dies übersteigt wohl die Kapazität Einzelner, wäre somit die erste Aufgabe einer neuen Internationalen. Einer „Internationale“ deren erste und wichtigste Forderung im europäischen wie auch weltweiten Kontext ein Schuldenmoratorium – https://blog.herold-binsack.eu/?p=1662 – für all die Länder wäre, die da die letzten Jahrzehnte vom Finanzkapital in die Schuldenfalle getrieben worden sind. Wenn das nicht gelingt auf die Beine zu stellen, dann reichen die Kräfte auch nicht, um einem solchen Krieg den Boden zu entziehen.

  10. Es sind m. E. nicht die...
    Es sind m. E. nicht die querelles allemandes die den Topf zum Sieden bringen könnten, sondern andere Faktoren. Der ideologisch gefärbte Blick mit historischen, oft schiefen Ableitungen läßt den Blick nicht um ein Jota klarer werden.
    Europa hatte schon einige „Einigungsbestrebungen“ hinter und über sich ergehen lassen. Vom Imperium Romanum, über das HRDN zu Napoleons und Hitlers waffenklirrender Träume bis hin zur relativ lang währenden bürgerlichdemokrat-ischen Einigung in unserer Gegenwart. Immerhin ist die Teilung Europas vor über zwanzig Jahren auch überwunden worden. Das ist eine absolut positiv zu bewertende
    Tatsache, die dem Freiheitswillen der Bürger Mittel-und Osteuropas zu verdanken ist.
    Diese Einigung ist unvollendet, die mit viel Enthusiasmus noch in den Fünfzigern begonnen wurde, weil sie die Herzen der Bürger im Verlaufe des halben Jahrhunderts nicht auf die Dauer gewonnen hat. Was immer auch die Gründe für dieses Versäumnis waren, evident ist, daß es an der mangelnden Gestaltungskraft der politischen Eliten lag, dieses entstandene Vakuum zu füllen. Der Eiertanz um die Schirm- und sonstigen Stützungsmilliarden, welcher der Öffentlichkeit nunmehr vorgeführt wird, lässt nur Ungutes erahnen. Weil mit Geld allein die Sache nicht zu heilen ist, da es in erster Linie eine politische Frage der Ziele und Grundüber-zeugungen ist.
    Die angerührte und ungelöste Verfassungsfrage war ebenso um nichts weniger schmählich und steht scheinbar derzeit nicht auf der Agenda.
    Es ist sicherlich richtig, dass das Straßburger Europa-Parlament, sowie der Europäische Gerichtshof und die Kommissionen samt dem Brüsseler Bürokratieapparat von den nationalen Parlamenten und Regierungen per Votum abgesegnet wurden, aber rechte Freude kommt ob ihrer bloßen Existenz nicht auf. Inwieweit dies Unbehagen u. a. dem Bonzentum der EU-Apparate geschuldet ist, wäre eine interessante Frage, die in aller gebotenen Sachlichkeit erörtert werden müsste. Ein Krieg in Europa sich vorzustellen ist absurd. Gut ist, das sich die frühere Konstellation der wechselnden Allianzen mittels Austarierung durch den britischen Gleichgewichtswahrer oder gar einer deutschen Hegemonie so nicht mehr stellt.
    Die Politik der europäischen Parlamente und Kabinette wird und muß sich der Aufgabe stellen, dass nur der geeinte Gestaltungswille dem wild gewordenen Finanzkapital Zügel anlegen kann um die Wohlfahrt der Teilnationen zu wahren. Dies geht nur, wenn es eine legitime, parlamentarisch abgesicherte Europäische Regierung geben wird. Die, historisch bedingten, Rangfragen und Eifersüchteleien
    einzelner Teilnationen, sind nicht mehr opportun angesichts der drängenden Probleme, die dringend einer Lösung harren.
    Eine Europäische Außen,- Wirtschafts, Finanz- und starke Verteidigungspolitik die den Namen und weltweit Achtung verdient, stellt sich dann als Folge ein, weil sie vom einigen Willen seiner Bürger getragen sein wird. Danach werden auch die Griechen nicht mehr allein dastehn und sich vorrrechnen laßen müßen wofür die Milliarden ausgegeben wurden. Europa ohne Griechenland geht ganz bestimmt nicht, ebenso wenig wie es ohne Irland, Italien, Spanien oder Portugal Bestand haben könnte. Das neu hinzukommende Kroatien in diesem Bund, gehörte eh immer schon zu Europa.
    MfG
    D. K.

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