Man isst neuerdings wieder gut im ICE. Sagt man. Die Boardrestaurants der weißen Pfeile geben sich allergrößte Mühe zu gefallen, putzen ihrer Menükarten auf mit Schmankerlküche und Köstlichkeiten der Saison, für die irgendeiner der aus Film, Funk und Fernsehen bekannten Haubenköche verantwortlich zeichnet. Alles frisch, blitzsauber und freundlich, man spricht sogar deutsch, auch wenn man häufig nicht aus deutschen Landen stammt. Aber Service auf dem Niveau von Bulgarien war gestern, heute gibt’s „Klassiker der deutschen Küche à la Alfons Schuhbeck“, und für danach sogar noch „Küchentipps für zu Hause“, vom Meister persönlich – ich bin begeistert. Denn obwohl die Strecke Hannover-Hamburg kaum mehr Zeit in Anspruch nimmt als eine durchschnittliche Ausgabe von „Lanz kocht“, bin ich hungrig wie ein Löwe, zumal seit 5:00 Uhr morgens auf den Beinen – das schreit nach ein paar appetitlich angerichteten Kalorien. Und da kommt mir der Schuhbeck im ICE gerade recht.
Ich nehme also Platz und greife nach der Karte, scanne Königsberger Klopse mit Kapernsauce und Gemüsereis und Bio-Penne mit Tomaten-Gorgonzolasauce, entscheide mich dann aber doch für das Traditionsgericht meiner Studentenzeit, einen großen Salatteller mit Hähnchenbruststreifen. Da kann nichts schiefgehen, denk ich mir, schnell und unkompliziert, so wie man es im Zug gerade mag, Schuhbeck hin oder her. So ein Salat mit Hähnchenbruststreifen sättigt und ist gesund, man fällt dem ohnehin gestressten Personal nicht übermäßig zur Last, ein politisch korrektes Gericht für unterwegs, sozusagen. Flugs den Kellner gerufen, „Hallo, Herr…“, aber kaum die Stimme erhoben, schallt es auch schon zurück: „Keinerlei Speisen, Küche irreparabel kaputt!“. Irreparabel kaputt, der freundliche Herr in Uniform wiederholt den Satz einmal, zweimal, dreimal, warum weiß ich nicht, hält er mich für blöd?, aber OK, vielleicht schlägt ihm der Lapsus auch nur übermäßig aufs Gemüt. Gibt’s überhaupt irgendwas?, frag ich, Käse, Würstchen oder ein nackig Stück Brot? Nein, nein und nochmals nein, kommt es postwendend retour, alles, alles, alles ist hinüber, weil Küche irreparabel kaputt. Ein Stück Kuchen kann ich haben, wenn ich will, und einen Kaffee dazu, aber das ist auch schon das höchste der Gefühle. Aha, sag ich, wie kömmt’s, wenn doch alles irreparabel kaputt? Na nicht alles, sagt mir der Kellner, aber die Kühlung halt, die Kühlung sei hinüber. Alles Verderbliche daher nicht mehr verkaufsfähig, weil Kühlkette unterbrochen, Bakterien könnten sich da bilden, Ehec und seine Verwandten, lesen Sie eigentlich keine Zeitung? Doch, sag ich – geht auch ein Mineralwasser? Ja, Mineralwasser geht immer. Sogar einen Wein könnte ich haben, aber nicht den Chardonnay und auch keinen anderen weißen; zwei rote seien nur noch da, Spätburgunder und Dornfelder, erstklassige deutsche Qualitätsware, alles andere leider weg. Weil Küche irreparabel kaputt?, frag ich schüchtern, wohl ahnend, dass das nicht der Grund sein könne, dieser vielmehr darin liegen dürfte, dass zahllose Reisende vor mir mit dem Chardonnay ihren Frust über ausfallende Speisen und knurrende Mägen hinuntergespült haben dürften.
Die gute alte Bahn, so erkenne ich sie jedenfalls wieder, wie oft ist mir selbiges in der Vergangenheit widerfahren, als Mehdorn noch Heidelberger Druckmaschinen verhökerte und vom nahenden Börsengang keine Rede war. Seither hat sich aber ja vieles geändert, um nicht zu sagen: alles, die Moderne hat gewissermaßen Einzug gehalten im einstigen Staatsbetrieb, die Vorboten einer kapitalistischen Zukunft sorgten für smoothes Dahingleiten in coolem Ambiente, dazu Kaffee und Brötchen an den Platz serviert und im Bordrestaurant regelmäßig einer von Kerners Köchen. So mag man das, da kann die Lufthansa sich abstrampeln, wie sie will, da fährt man Bahn, Bahn, Bahn, auch der Umwelt zuliebe. Aber was für ein herber Rückschlag, „irreparabel kaputt“, mit allem hätten wir gerechnet, selbst mit stundenlang ausfallenden Klimaanlagen, aber nicht damit. Andererseits spricht aber womöglich genau das für die Modernität der Bahn, „irreparabel kaputt“ ist ja in gewisser Hinsicht die Signatur unseres Zeitalters, und was dem japanischen Atomkraftwerk gut genug ist, das kann der deutschen ICE-Küche doch nur billig sein. Wer nichts wagt, der nichts gewinnt, Komplexitätsreduktion war gestern, wo Hähnchenbrust mit Mangold und aromatischem Bavaria Blue auf der Karte steht, noch dazu in Limonen-Sahnensauce, dazu Zucchini-Möhrengemüse und Salzkartoffeln, da muss man eben in Kauf nehmen, dass es gelegentlich nichts dergleichen gibt und man keine andere Entschuldigung dafür angeboten bekommt als „Küche irreparabel kaputt“. Ich meine, hey: Schließlich rast man mit 200 Sachen durch die Landschaft, und wer behauptet, dass man da Hähnchenbrust mit Mangold und Limonen-Sahnesauce verlangen sollen darf anyway? Ein wenig dekadent ist das ja eigentlich schon, wenn man es mal von der anderen Seite betrachtet, von der, die meine Oma stets bevorzugte: „Wenigstens kamen wir unversehrt am Zielort an!“ Genau: Scheiß auf die Hähnchenbrust und den Mangold und die Sahnesauce, Hauptsache das Ding bleibt auf den Gleisen, zumindest bis zur Station Hamburg Hauptbahnhof. Irreparabel kaputt im Kontext einer ausgefallenen Bordküche und eines knurrenden Magens verkommt zur Lappalie, wenn man bedenkt, wofür die Phrase sonst noch als Erklärung herhalten könnte, aus der Ex-Post-Perspektive: „Vollbesetzter ICE entgleist, mehrere Hundert Tote, irreparabel kaputt.“ Soll der Magen knurren, während der Schuhbeck aus der Karte lacht und andere Reisende den Chardonnay bereits wieder verdauen, den ich gerne getrunken hätte; ich nippe an meinem Spätburgunder, mache einen Schluck aus dem Mineralwasserglas und lese weiter in meinem Buch über „Reframing“ von Psychoguru Richard Bandler. Man müsse den negativen Dingen eine positive Bedeutung verleihen, schreibt er, dann fühle man sich schlagartig besser. Toll, denke ich mir da, ich weiß zwar nicht, wie das konkret funktionieren soll, aber demnächst muss ich es unbedingt mal ausprobieren…