Das Tragische an dem Massaker von Norwegen ist, dass einmal mehr dutzende von Menschen sterben mussten, um eine Banalität zu beweisen: der mit der Waffe ist der Stärkere. Diese Erkenntnis ist aber so alt wie die Menschheit, nichts, was man ihr an Neuigkeitswert hinzufügen könnte, auch nicht in 1500 Seiten. Wer in den Krieg gegen den angeblichen Kulturmarxismus ziehen möchte, bitteschön, aber auf irgendeine daraus fließende Anerkennung braucht er nicht zu hoffen, wenn er sich als Ziel seines Kreuzzuges ausgerechnet ein Ferienlager von Kindern aussucht. Das ist semantisch hoffnungslos verlorenes Terrain, stattdessen offenbart sich einmal mehr ein in sich selbst und seiner Umwelt verlorenes Häufchen Elend, das in seiner Hilflosigkeit wild um sich schlägt. So wie es vielleicht jeder von uns gerne schon mal gemacht hätte, gerne machen würde, insgeheim, aus Frust wegen diesem oder jenem, einfach mal so wild um sich schlagen, sinnlos drauflos ballern, aber natürlich haben wir es uns stets verkniffen, der wilde Wahn blieb einer der Gedanken, und war Tags darauf auch schon wieder vergessen. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen, so funktioniert Gesellschaft, und weil der Attentäter von Norwegen das zumindest geahnt haben dürfte, investierte er volle 1500 Seiten um Sinn zu dokumentieren, wo keiner ist. Man kann das Nichts mit vielen Worten beschreiben, es bleibt dennoch nur Nichts. Nichts wurde gezeigt und nichts wurde bewiesen, Menschen sind sterblich, das wussten wir lange vor Utöya, Revolverkugeln sind tödlich, das wussten wir auch. Kein Held und kein Freiheitskämpfer weit und breit, daran ändern 1500 Seiten nicht das Geringste. Selbst diese 1500 Seiten sind im Grunde sinnlos, denn der Attentäter bedarf nicht der Schrift, um uns über seine Motive ins Bild zu setzen; anders als in früheren, ähnlich gelagerten Fällen, war er nämlich nur Manns genug, 86 Kinder in einem Ferienlager umzubringen, aber zu feige, um sich hernach selbst das Leben zu nehmen.
Keinen Sinn suchen, wo keiner ist
25. Juli 2011 | 12 Lesermeinungen
Ich tu mich mit dieser Sinn-...
Ich tu mich mit dieser Sinn- und Schuldsuche in den Medien immer schwer. Der Mann ist so offensichtlich wahnsinnig und verrückt, wie man nur sein kann. Ein Alptraum der wahr geworden ist.
Ich sehe diese Tat als...
Ich sehe diese Tat als Motivation für manch anderen Geisteskranken, sowas zu wiederholen. Toller Beitrag, so habe ich über die Tat noch nicht nachgedacht und ich glaube wenn man den zukünftigen Attentätern die Sinnlosigkeit dessen näher bringen würde, hätte man einen entscheidenen Beitrag geleistet. Word up!
Ja, Sie bringen es auf den...
Ja, Sie bringen es auf den Punkt, die Tat war so richtig sinnlos. Die einzige Frage, die sie aufwirft, ist: wie hält man vor allem die Jüngeren davon ab, zu verzweifeln, weil sie eigentlich handeln wollen und müssen, aber keinen Ansatzpunkt dazu finden. Ich bin jetzt fast 50, für mich wars nie sonderlich prall, aber für die jüngeren ist es noch viel mieser. Sie haben eigentlich nur noch Tristesse, Seelenverkäufertum, Virtualbeziehung und Ramschflut um sich. Wenn wir ihnen was helfen können, dann damit, nicht zynisch zu werden, sondern ihnen von früheren Krisen zu erzählen und daß und wie die überlebt worden sind.
Wenn man sich mit Elias...
Wenn man sich mit Elias Canettis „Masse und Macht“ näher auseinandersetzt, wird einem eher klarer, was in dem Kopf solch eines Massenmörders, wie der gerade in Norwegen aufgetauchte, vorgehen mag. Eines Menschen, der sein höchstes Empfinden auf einem Berg von Leichen zu finden vermag. Man soll sich auch nicht vertun, das Dunkle ist in uns allen vorhanden, nur eben eingehegt durch sittliche Gesetze, Normen, die seit noch nicht allzulanger Zeit in geschichtlichen Maßstäben gesehen, unser Leben als Gattungswesen bestimmen. Die gepriesene Aufklärung ist nur ein dünner Firnis, die selbst als teilweise sogar noch blutbefleckt durch Staatsterreur anzusehen ist.
Die durch Fouché angeordneten Massaker in Lyon und Nantes im 18. Jhdt. zur Zeit der franz. Revolution waren eiskalt befohlen worden.
Auch die Argumentation, daß jener Täter schlicht ein Verrückter sein muß, greift zu kurz. Damit soll nicht dessen grauenvolle Schuld dialektisch hinweggezaubert werden. Mir scheint dieser Mensch ziemlich am oberen Rand von durchschnittlicher Intelligenz angesiedelt zu sein. Die staatlichen Massenmörder unserer Geschichte vor 65 Jahren einfach als Verrückte zu bezeichnen greift genauso zu kurz, entschuldigt sie aber genauso wenig. Diese Art von Nihilismus muß schlicht in Rechnung gestellt werden, als latente Bedrohung. Weil diese Menschen nicht ein Gran an Gewissen in sich tragen, sie sind von der Richtigkeit ihres Tuns zutiefst durchdrungen und sehen sich absolut schuldlos, sind sie um so gefährlicher und auch sehr schwierig in ihrem „normalen“ Umfeld zu erkennen. Das eigentlich Schlimme ist, dass sie ungeheures gegenseitiges Mißtrauen im Umgang von Bürgern unteinander in einer Gesellschaft zu säen vermögen.
Das muß so sein, sonst würden z. B. im Iraq oder in Pakistan nicht Terroristen gnadenlos an die Hundert eigener Mitbürger, sogar gleicher Religion, einfach ohne große Umstände in die Luft sprengen. Oder man denke an die salafistischen Mörder in Algerien, die vor noch nicht allzu langer Zeit Autobusse auf offener Landstaße anhielten und allen Insassen gnadenlos die Kehle durchschnitten.
Dieser Nihilismus ist oft getarnt unter philanthropischen Ideologien und Welterklär-ungsdeutungen. Religion wird in dem Zusammenhang nur als ein Mittel gesehen, um das eigene Sendungs-und Machtstreben fadenscheinig zu dekorieren.
Gefährlich ist es für die Gesellschaften modernen, demokratischen Typs vor dieser Tatsache die Augen zu verschließen und die routinemässige Betroffenheitssuada, die nun über alle Medien abläuft, als Erklärungs-oder Beruhigungspille hinzuneh-men.
Die Welt, auch in den Köpfen einiger Menschen mitten unter uns, ist so gefährlich wie seit eh und je. Naiv ist es zu glauben, man könne in Nullkommnichts per elektronischer Klicks Unmengen an Freunden gewinnen. Echte Freundschaften gewinnt man nur auf die Dauer durch geprüftes, gemeinsames Handeln und Denken.
Der Wohlstand und das behüt(t)ete Dasein der Gegenwart mag uns anderes suggerieren, entspricht aber keineswegs der Realität.
Aber Herr Strobl, heutzutage...
Aber Herr Strobl, heutzutage muss, MUSS eingfach alles einen Sinn, eine erklärung, einen Zusammenhang haben. Um einzelne anzuklagen, gesellschaftliche Veränderungen zu fordern, Köpfe rollen zu lassen, Schuldzuweisungen und -entlastungen vornehmen zu können. Das etwas einfach eine Verkettung unglücklicher Umstände, unerklärliche Verrücktheiten, gewalttätiger wahnisnn sein kann – nein, das ist eine Chimäre von konservativen Naivlingen wie mir. Lesen Sie Zeitung, schauen Sie fern. Dann lernen Sie. Wie es gewesen sein muss, wer schuld ist, wer verantwortlich, warum wir es hätten verhindern können, wenn wir gewollt hätten. Ein frustrierter Feigling? Tststs – Sie machen es sich aber einfach!
Gruss,
Thorsten Haupts
@ThorHa: wenn ich mir ihre...
@ThorHa: wenn ich mir ihre Worte so durchlese, erscheint mir die Behandlung solcher Ereignisse umso mehr wie ein zunehmend klappriger Prozeß (so nennt man die industrielle Vorgehensweise).
Nicht ein „Engel“ im...
Nicht ein „Engel“ im Jenseits
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Wo offenbarer Unsinn waltet, herrscht mitnichten Nichtsinn. Ich habe es daher auch anders formuliert. Der notwendigen Kürze wegen, in einem FAZ-Leserbeitrag, vielleicht etwas zu aufgesetzt: „Das automatische Subjekt scheint wahnsinnig geworden“ (https://www.faz.net/artikel/S32742/attentate-in-norwegen-die-tat-eines-irrsinnigen-30472423.html, https://blog.herold-binsack.eu/?p=1727)
Daher hier die Erklärung, die dort nicht möglich war.
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Das „automatische Subjekt“ ist nichts anderes als der sich-selbstverwertende-Wert, also die Kapitalbewegung selbst. So wie schon im ersten Band des „Kapital“ von Marx aus der Geld-Ware-Geld-Bewegung abgeleitet. Was allerdings ein wenig irritiert, ist der Begriff des „Subjekts“. Ein Subjekt sein heißt gebräuchlicherweise ein Individuum sein. Doch wenn auch der Täter sicherlich ein Individuum ist, so handelt er als automatisches Subjekt mehr als Automat denn als Individuum. Als bewusstloser, ja hier gar besinnungsloser Agent eines Marktgeschehens. Mehr als Objekt denn als Subjekt.
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Und wer das Marktgeschehen, den Wahn auf den Konsummärkten (analog den Geldmärkten) beachtet, dem kommt nun mal die Idee, dass das automatische Subjekt wahnsinnig ist. Und zwar ganz so, wie sich der Antisemitismus als Semantik eines sich selbst nicht begreifen wollenden Subjekts darstellt. Nur vielleicht noch esoterischer. Sich mehr selbst zu vergewissern suchend als andere überzeugen wollend. Daher dieser „christliche Fundamentalismus“, der da ziemlich verloren wirkt.
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Da zeigt sich mehr Autoaggressivität als Welterlösungswahn. Selbstvernichtungswahn! Dennoch, und darin liegt die Unbegreifbarkeit dieser Tat vor diesem Hintergrund: Der Kerl tötet sich nicht mal. Er will nicht verschwinden. Er will verstanden werden, aufgehoben-sein. Er scheint eine Ahnung zu haben von der Metamorphose dieser Selbstbewegung. Aber auch nicht mehr. Als Selbstbewegung des Kapitals mal Ware sein, mal Geld, mal Arbeit, dann wieder Geld, dann Ware, dann Geld. Es gibt einfach kein Ende. Einfach immer nur Wert-sein. Mehrwert dann gar. Doch wo dieser herkam, das blieb ehe immer schon unbegriffen. Erst recht dort, wo das Geldkapital seine Herkunft leugnet. Was ist schon „abstrakte Arbeit“? Den Begriff können doch nur die Juden erfunden haben! Hat die Arbeit denn keinen Wert mehr? Wird Leistung denn nicht mehr belohnt, ehrlicher (Kapital-)Aufwand nicht mehr ordentlich verzinst? Das Subjekt wird schier wahnsinnig. Es zweifelt an seiner Vernunft. Es bejammert seinen Substanzverlust. Es verachtet seine Existenz schließlich. Es mutet Verschwörungen – überall.
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Diese Verschwörung der Marxisten. Geht diese gar soweit, dass sie sich mit den Islamisten verbünden. Ja selbst die „Eurokraten“ sind Sozialisten. Nicht unähnlich darin den Juden, jenem Kapital, das so „international“ ist, dass es nur „bolschewistisch“ sein kann. Lauter Sozialisten diese Kapitalisten. Lauter Islamisten diese Bolschewisten. Verwirrt durch den Fetischcharakter der Warenform, die den Menschen ihr gesellschaftliches Verhältnis vernebelt. Ist es doch nur „das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.“ (Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, I. Abschnitt: Ware und Geld, S. 86, MEW 23, Dietz-Verlag)
Wer in solch geistiger Not verhangen, der hofft auf Fest-setzung im Diesseits. Auf Setzung. Auf Setzung des Werts. Er will einfach nur automatisches Subjekt sein. Nicht ein „Engel“ im Jenseits.
@Devin: wie immer sehr...
@Devin: wie immer sehr ziseliert, Ihre Analyse, und eher dem geistigen Horizont der älteren Generation verhaftet, aber in manchem kann ich Ihnen zustimmen. Z.B. darin, daß eine wahnsinnige Ratlosigkeit in der Luft liegt. Nur, wir müssen Sie aushalten, ohne wahnsinnig zu werden. Aber ich meine, es ist schon weiter wie „automatisches Subjekt“. Automatik war vorgestern. Vielleicht noch „virtuelles Subjekt“. Oder abgesoffene Monade. Komischerweise hat noch keiner Assange und Breivik mal in einen Zusammenhang gestellt. Gäbe aber zumindest etwas Licht auf die Lebensumstände der 30jährigen.
Wenn die Kerle doch nichts...
Wenn die Kerle doch nichts Neues bringen
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@Colorcrace: Ich gebe Ihnen Recht. Automatisches Subjekt mag von vorgestern sein. „Virtuelles Subjekt“ ist sicherlich nicht schlecht. Auch ich habe schon davon gesprochen (Philosophus mansisses, https://www.herold-binsack.eu/downloads/philosophus_mansisses.pdf). Doch bin ich damit nicht wirklich zufrieden. Die neue Semantik scheint halt doch noch nicht geboren. Jedenfalls nicht auf wissenschaftlichem Niveau. Marx muss da einstweilen noch gut für sein. Man sollte ihn weiter entwickeln. Ohne ihn zu verraten. Letzteres kann jeder Depp. Und was die mögliche, bzw. gar sehr wahrscheinliche, Beziehung zwischen Assange und Breivik angeht, da habe ich schon was zu geschrieben. Auch das mutet vielleicht an wie von vorgestern. Doch wenn die Kerle nichts Neues bringen!? Was soll man Neues an ihnen finden? Doch lesen Sie selber: Anarchistische Diadochenkämpfe (https://blog.herold-binsack.eu/?p=1451), oder auch das: Die gemeinsame Wurzel von Ökonomismus und Terrorismus (https://blog.herold-binsack.eu/?p=1326).
@Devin: naja, Sie wollen neue...
@Devin: naja, Sie wollen neue _Theorie_. Aber Theorie wächst mE peu a peu _mit_ dem Handeln, die kann nicht rein auf dem Reißbrett gefertigt werden. Und dann wär noch die Frage, ob nicht erst ziemlich breite Erfahrung mit $irgendwas vorliegen muß, bis es überhaupt zu einer Theorie, die ja auch eine gewisse Logik und Begrifflichkeit haben muß, reicht (und dann ist es zum Handeln meist schon zu spät?!). Zuerst ist da wohl nur Gefühl und Lebenserfahrung, von Einzelnen. – 2,3 Stichworte, die mir dazu einfielen: Flüchtlingsschaden: die Mentalität, ständig auf dem Sprung zur 180-Grad-Wende sein zu müssen, nichts planen zu können und nichts zustandezubringen (das als eine Art derzeitige Grunddisposition). Zusammen mit „Einziehen des Horizonts auf die Gegenwart“ und „digitale Demenz“ (Wortprägung durch Hrn. Schirrmacher). – Ein 30jähriger Arbeitskollege vor ein paar Wochen: „das geht beim einen Ohr rein und fällt zum anderen wieder raus und ist schon vergessen.“ – Villem Flussers Bild des idealen Konsumenten der 90er: eine Röhre, durch die alles nur noch hindurchströmt, ohne noch irgendwie haften zu bleiben, somit Hinfälligkeit von vorne und hinten (so in etwa).