In einem anderen Blog schrieb ein Kommentator mit Pseudonym „Goodnight“, auf dessen Meinung ich einiges gebe, gestern folgendes zum Thema Utoya:
„Das Nicht-Töten ist das eigentliche Perverse in dieser Welt. Das muss man verstehen. Und dann hat man eine Ahnung davon, was die Zivilisation eigentlich ist. Und weshalb das ganze so fragil ist. Und warum wir gerade deshalb immer wieder Moral kommunizieren müssen.“
Und damit erinnerte er mich an das neue Buch von Francis Fukuyama, das ich unlängst las, „The Origins of Political Order“. Darin heißt es:
„The human instinct to follow rules is often based in the emotions rather than in reason, however. Emotions like guilt, shame, pride, anger, embarrassment, and admiration are not learned in the Lockean sense of being somehow acquired after birth through interaction with the empirical world outside the individual. Rather, they come naturally to small children, who then organize their behaviour around genetically grounded yet culturally transmitted rules. Our capacity for rule making and following is thus very much like our capacity for language: while the content of the rules is conventional and varies from society to society, the „deep structure“ of the rules and the ability to acquire them are natural.“
Sowie etwas spezifischer zur Gewalt:
„Human beings have a natural propensity for violence. From the first moment of their existence, human beings have perpetrated acts of violence against other human beings, as did their primate ancestors. Pace Rousseau, the propensity for violence is not a learned behaviour that arose only at a certain point in human history. At the same time, social institutions have always existed to control and channel violence. Indeed, one of the most important functions of political institutions is precisely to control and aggregate the level at which violence appears.“
Insbesondere die letzten beiden Sätze des Fukuyama-Zitats sind es, an die mich der Goodnight-Kommentar erinnerte. Und ich glaube, dass eine ganz gewichtige Wahrheit dahinter steckt, die wir in der Routine, mit der wir es gewohnt sind, die moderne Gesellschaft abzuspulen, nur allzuleicht vergessen: Politische Institutionen dienen in erster Linie tatsächlich der Gewaltverhütung. Das mag sich banal anhören, ist es aber nicht. Der „Naturzustand“ ist nicht das Paradies der Liebenden, auch nicht unbedingt der hobbesianische „Krieg aller gegen alle“, aber immerhin eine Welt, in der das Töten und Getötetwerden die Regel ist und nicht die Ausnahme. Die Zivilisation und mit ihr der „Friede“ ist etwas überaus Fragiles, das uns nicht in den Schoß fällt, sondern wofür andauernde Anstrengungen unternommen werden müssen. Im Kleinen wie im Großen, so wie es die Gesellschaft vehement zurückweisen muss, wenn ein Attentäter auf „grausam aber notwendig“ plädiert, ist Peer Steinbrücks Satz in unserem FAZ-Gespräch sehr zutreffend, wo er sagt:
„Ja, sie [die aktuelle junge Generation] betrachtet die jetzige Situation als selbstverständlich. In Wirklichkeit sind sie in einer privilegierten Lage, für die ihnen allerdings das Bewusstsein fehlt. Das heißt, wir müssen eine neue Geschichte, eine neue Erzählung beginnen über Europa, die auch diese Generation erreicht. Meine Ansprache an Schüler und Studenten fängt so an: Ich bin nach meinem Urgroßvater, meinem Großvater und nach meinem Vater die erste Generation, die nicht in einem europäischen Krieg verheizt wurde. Man könnte sagen: „Ihr tut so, als ob euch die Friedensregion Europa in den Schoß gefallen ist, für alle Zeiten. Wie kommt ihr auf die Idee, dass das nicht labil werden könnte? Auf dem Balkan haben wir es schon erlebt. Ihr müsst euch doch dafür engagieren.“
Zivilisation und Frieden sind anstrengend und kommen nicht von selbst: Zumindest eine Lehre, die wir aus Utoya ziehen sollten.
Ist der Naturzustand nicht...
Ist der Naturzustand nicht insgesamt eher eine Stammesgesellschaft und damit immer eine Zivilisation? Sicherlich nicht eine ausdifferenzierte westliche Zivilisation, aber dennoch eine Zivilisation mit Regeln und Institutionen?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass getötet werden (in der Gesellschaft), dabei die Regel ist, da Natur und Krankheiten die Mitglieder eines Stammes immer stark dezimiert und es hinderlich wäre die eigenen Leute zu töten. Innerhalb der Stammesgesellschaft existiert damit doch „Friede“ bzw. ein Zustand bei dem Gewalt stark beschränkt wird.
Mit Zivilisation folgt meiner Meinung nach auch nicht unbedingt Friede, da ja gerade zwischen Zivilisationen Kriege auftreten und Zivilisationen ja auch Gewalt erleichtern können, bspw. gegenüber Fremden oder Andersartigen, indem diese dehumanisiert werden.
@Felix
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Ja, der Naturzustand...
@Felix
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Ja, der Naturzustand glich wohl eher Stammes- bzw Clangemeinschaften als dem einzelnen Individuum nach Vorstellung von Hobbes oder Locke. Und die Frage ist weniger, was innerhalb von derartigen, durch persönliche Bindungen gekennzeichneten Gemeinschaften passiert, sondern was außerhalb, zwischen diesen Clans oder generell: in einer zunehmend unpersönlicher werdenden Gesellschaft passiert.
Sorry,
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aber ein perverseres...
Sorry,
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aber ein perverseres Urteil als den ersten Satz im Artikel (dass das Nicht-Töten „das eigentlich Perverse in der Welt sei“) kann ich mir leider nicht vorstellen.
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Und die perverse Vorstellung, der Mord sei das „eigentlich“ Normale, ist bei der „jungen Generation“ ja auch keineswegs „in Vergessenheit geraten“, sondern wird ihr von der Unterhaltungsindustrie vielmehr tagtäglich eingehämmert. (Dadurch erzeugt sie erst die hobbesianische Paranoia, welche sowohl den Überwachungstaat wie auch den Terroristen hervorbringt).
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Das Massaker von Utoya hat mit „barbarischer Gewalt“ absolut nichts gemein. Im Gegenteil, es ist (egal ob man es als Amoklauf eines Geisteskranken oder als politische Terroraktion betrachtet) Ausdruck unserer Zivilisation und ihrer spezifischen Gewaltaufassung bzw. Friedensordnung.
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Die „Barbaren“ der Vor- und Frühgeschichte waren gewiß brutal, aber eben keine Amokläufer. Sie wollten Beute machen, Sklaven fangen, Schutzgelder erpressen oder eine politische Herrschaft errichten, aber eben nicht einfach nur morden. Sie verfaßten auch keine 1500seitigen Manifeste. Ihre Gewalt hatte einen klaren Sinn, der jedem Analphabeten sofort verständlich war.
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Und schon bei den Barbaren war die Gewalt ritualisiert und kanalisiert, sie herrschte keineswegs „immer und überall“. Davon zeugen alte Sitten von der Heiligkeit der Gastfreundschaft, die den schutzlosen Fremden unter besonderen Schutz stellten.
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Die Demonstration jederzeitiger Gewaltbereitschaft gehörte zwar zum Habitus des Barbaren (wie übrigens auch des degenführenden Adligen des 18. Jahrhunderts wie auch des heutigen US-Bürgers mit seiner notorischen Pistole im Handschuhfach), war/ist aber mehr Imponiergehabe und keineswegs Ausdruck von Mordlust. Man brauchte eine Drohkulisse, wollte im Grunde aber ohne Gewalt auskommen.
Die Bereitschaft zum friedlichen Zusammenleben war dabei weitaus größer, als es Hobbes‘ Diktum vom „Krieg aller gegen alle“ oder vom „Mensch als Wolf des Menschen“ suggerieren.
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Unterm Strich waren auch Barbaren Menschen, mit denen man reden und sinnvolle Übereinkünfte treffen und ggf. sogar Großmut erwarten konnte.
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Schon daher würde ich das Fazit lieber konventionell ziehen:
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Massaker und Amokläufe sind anstrengend, gefährlich und kommen nicht von selbst. Auch und gerade nicht unter Barbaren.
Breiviks Opfer gehörten nach...
Breiviks Opfer gehörten nach jeder modernen wie archaischen Logik zu seinem „eigenen“ Stamm bzw. Nation oder Volk, d.h. zweifelsfrei zu denen, die er nie und nimmer hätte töten dürfen.
Kein archaischer Barbar hätte dafür mehr Verständnis gehabt als wir.
@HansMeier555
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>aber ein...
@HansMeier555
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>aber ein perverseres Urteil als den ersten Satz im Artikel (dass das Nicht-Töten „das eigentlich Perverse in der Welt sei“) kann ich mir leider nicht vorstellen.
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Weil du ein anthropozentrisches Weltbild hast, was dich ehrt, was dir aber offenbar den Blick dafür verstellt, dass auch jede gewöhnliche Bürger das Töten tausend- und millionenfach billigt, nämlich dort, wo es um seine Nahrung geht. Und nichts anderes war mit diesem Zitat bzw dem betreffenden Kommentar in seinem richtigen Kontext gemeint: Dass die Natur an sich ein Zustand des Tötens und Getötetwerdens ist, permanent, was wir Schöngeistigen aber so ja auch nicht gerne hören, deshalb reduzieren wir es semantisch auf seine biologisch-sympathische Seite und sprechen von „Fressen und Gefressenwerden“.
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Menschliche Zivilisation ensteht damit nicht „mit der Natur“, sondern vielmehr „gegen die Natur“. Es bedarf daher eines zivilisatorischen Aufwands, sie fällt uns nicht einfach mal so in den Schoß. Das ist, was der Kommentator meinte – und ich schließe mich dem an.
@HansMeier555
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>Breiviks...
@HansMeier555
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>Breiviks Opfer gehörten nach jeder modernen wie archaischen Logik zu seinem „eigenen“ Stamm bzw. Nation oder Volk
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Sorry, aber diese 3 Begriffe meinen gänzlich unterschiedliche Dinge und von „Stamm“ sollte spätestens seit Ferdinand Tönnies keine Rede mehr sein, wenn es um moderne Gesellschaften geht, die sich im wesentlichen über unpersönliche Bedingungen konstitutieren. „Stamm“ ist zudem der einzige Begriff, der wirklich etwas konkretes, empirisch nachvollziehbares meint; „Volk“ und „Nation“ sind hingegen relativ willkürliche Entitäten, häufig nicht mehr als Fiktionen.
What's the difference between...
What’s the difference between us and apes? 3% of the genetic makeup apparently. Also, das Menschen töten oder manchmals töten wollen überrascht mich nicht.
Ja natürlich! Zivilisation...
Ja natürlich! Zivilisation ist nichts anderes als die über Jahrtausende graduell gewachsene Fähigkeit menschlicher Gemeinschaften, aus immer mehr Interaktionen direkte, physische Gewalt auszuschliessen, GEGEN die Instinkte und natürlichen Veranlagungen des Menschen. Was denn sonst? Wie dünn diese immer wieder zu verteidigende zivilisatorische Decke ist, kann man alleine daran ermessen, dass eine Mehrheit von Menschen auch in Deutschland wenig Probleme darin sieht, einen Dieb (aka Fressfeind) einfach zu erschiessen.
Die Frage ist, inwieweit uns das beim Akt des feigen Mörders in Norwegen hilft, dessen Mord gerade nicht ein gewalttätiger Ausbruch von Gefühlen war, sondern eine kühl kalkulierte Provokation. Ich könnte einem „simplen“ Mörder, der einen Mord im Affekt begangen hat, die Hand geben, weil ich sie nach wie vor als Menschen erkenne. Terroristen vom Schlage eines Breivik nicht!
Gruss,
Thorsten Haupts
Drei, nein vier...
Drei, nein vier Anmerkungen:
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1. Nach Stand der Archäologie sind Kriege, also eine Gruppe gegen andere, „für die gute Sache, Heimat, Idee, Religion, Rasse etc.“, eine Erfindung des Neolithikums, und in den zigtausenden Menschheitsgeschichte und -Zivilisation zuvor (Venus von Willendorf!) nicht nachweisbar. Späte Stein-, bzw. Kupferzeit, da gibt es dann die ersten Massengräber, wo offensichtlich „Feinde“ recht nachlässig bestattet wurden. In den ersten Stadtkulturen im heutigen Syrien findet man Spuren von Belagerung und Krieg. Zuvor nicht, Morde, Opfer, Kannibalismus, Krankheit usw. aber natürlich schon.
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2. Herr Fukuyama ist für mich seit seinem postulierten (und vielfach geglaubten!) „Ende der Geschichte“ als scharfsinniger Analytiker unten durch, er ist eher Ideologe, und nichts wirkt so alt, wie die letzte widerlegte Ideologie.
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3. Es ist jetzt erwartungsgemäß viel vom „geisteskranken“ Einzeltäter die Rede, insbesondere von interessierter „islamkritischer“ Seite. Was dazu zu sagen ist, hat Herr Minkmar gerade in einem lesenwerten Online-Artikel der Faz geschrieben. Herr Steinbrück steht mit seiner Agenda-2010-SchröderBlair-Politik für den forcierten Wettbewerb aller gegen aller, für das Ausziehen der Samthandschuhe, für die ausgefahrenen Ellbogen und die Schere zwischen arm und reich, die sich weiter öffnete. Friedensstiftend ist was anderes. Zivilisation kommt nicht von Schwertern, sondern aus Federn. Alles andere ist reaktionärer Mist, der immer traumatisierte Opfer hinterlässt, die dann in der nächsten Runde evtl. selbst wenig Skrupel zeigen. Die Stärke der ägyptischen Demokratiebewegung etwa war ihre Friedlichkeit, auch wenn sie sich mal zu wehren wusste, wenn angegriffen. Wer Stahlgewitter braucht, soll in einem Stahlwerk arbeiten gehen.
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4. (OT) Steinbrück-Interview? Seriously?! Und dann nicht mal nach „innovativen Finanzprodukten“ und Asmussen gefragt?! Kam die Idee zum Interview zufällig aus dem Steinbrück-Lager?
... wie oft wollte ich schon...
… wie oft wollte ich schon irgendeinen Nachbarn (Radfahrer, Autofahrer, Hundebesitzer, Krachmacher, …) töten. Nur die Zivilisation hielt mich zurück.
Ist es so einfach?
Ich vermute: ja.