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Die Illusion der Geldillusion

In der Serie „Wirtschaftsbücher“ stellt die FAZ heute das neueste Werk „Identity Economics“ der Autoren Akerlof und Kranton vor. Darin geht es wohl einmal mehr gegen das neoklassische Postulat des „Homo oeconomicus“, ein Thema, dessen sich George Akerlof schon in „Animal Spirits“ gemeinsam mit Kollegen Robert Shiller angenommen hatte. Der Homo oeconomicus ist bekanntlich jenes kühl kalkulierende Fabelwesen, das über perfekte Information verfügt, außerhalb jeder Zeitdimension lebt und stets rational entscheidet. Der selige Friedrich A. Hayek zählte es bereits in seinen frühen Jahren zur „ökonomischen Folklore“, eine Überzeugung, die zwischenzeitlich leider wieder verschütt ging. Implizit spukt der Homo oeconomicus noch immer durch die Modellwelten der Ökonomen, auch und vor allem deshalb, weil sie sich nur dank einer solchen Fiktion überhaupt modellieren lassen.

In der realen Wirtschaftswelt ist aber natürlich alles ganz anders. Darüber schreibe ich u.a. in meinem Buch „Ohne Schulden läuft nichts“, weniger mit Blick auf den Homo oeconomicus als solchen, sondern gegen die damit verknüpfte Vorstellung, reale, wirtschaftlich handelnde Akteure seien stets und überall Realtauschoptimierer. Meine These vielmehr: Die sogenannte „Geldillusion“ ist der Regelfall, nicht reale Nutzenfunktionen sind das entscheidende, sondern Geldgrößen. Money makes the world go round, wie Liza Minelli schon sagte. Jüngste Studien aus den USA belegen das: Demzufolge geben die Verbraucher deutlich mehr Geld aus, wenn sie auf ihren Einkaufstouren mit Kreditkarte bezahlen statt mit Bargeld – und zwar um sage und schreibe 40 Prozent mehr: „Konsumenten sind deutlich sparsamer, wenn sie mit Geld bezahlen, weil sie sich deutlich bewusst sind, wie viele Scheine sie aus ihren Brieftaschen ziehen“, kommentiert Sue Fogel, Vorsitzende des Instituts für Marketing an der Chicagoer DePaul Universität die Ergebnisse. „Wenn sie aber mit Kreditkarte bezahlen, dann wirkt der Bezahlvorgang weniger real. Einige Studien deuten sogar darauf hin, dass Konsumenten mehr ausgeben als sonst, wenn sich in ihrem Blickfeld überhaupt nur das Logo einer Kreditkartenfirma befindet“.

Wie rational klingt das? Unterstützen derartige Verhaltensweisen wirklich die These, dass nüchtern kalkulierende Verbraucher jegliche Marketingmanöver seitens Industrie und Handel durchschauen, und ihr Einkaufsverhalten so steuern, dass ihre reale Nettoposition gewahrt bleibt? Eine relativ neue Strömung in der Wirtschaftswissenschaft, die unter dem Begriff „Behavioral Economics“ verhaltenspsychologische Elemente in die Disziplin einführt, kommt zu dem Ergebnis: nein. Sie hat die Relevanz von Geldgrößen für ökonomische Entscheidungen anhand von Studien und Experimenten eindeutig nachgewiesen. So konnte zum Beispiel gezeigt werden, dass Personen, deren Gehalt um 2 Prozent erhöht wird, während die allgemeine Inflationsrate bei 4 Prozent liegt, sich finanziell besser gestellt fühlen, als wenn bei allgemeiner Preisstabilität ihr individuelles Gehalt um 2% reduziert würde. In einer anderen Studie wurden Probanden gefragt, sich zwei Personen vorzustellen: Carol und Donna. Beide sind, so die Vorgaben, in derselben Gegend aufgewachsen, machten zusammen den Schulabschluss und fanden danach gleichwertige Jobs in zwei Werbeagenturen. Carol startet mit einem Jahresgehalt von 36 Tausend Dollar, während das durchschnittliche Einstiegsgehalt in ihrer Firma bei 40 Tausend Dollar beträgt. Donnas anfängliches Gehalt beläuft sich auf 34 Tausend Dollar, womit sie deutlich über der üblichen Einstiegsvergütung ihrer Firma liegt, die nur 30 Tausend Dollar ausmacht. Mit anderen Worten: Carols Gehalt ist zwar deutlich höher als das von Donna, aber relativ zu allen anderen Berufseinsteigern in ihrer Firma liegt sie niedriger; Donna hingegen verdient nominell weniger als Carol, liegt damit aber noch immer weit über dem Durchschnitt dessen, was ihre Kollegen am Anfang verdienen.

Auf die Frage, welche der beiden sie als zufriedener mit ihrer beruflichen Situation einschätzten, antworteten 80% der Befragten: Donna. Und das, obwohl unter ansonsten gleichen Bedingungen der „relative Preis“ von Carols Arbeit deutlich höher liegt. Sie sich deshalb real auch mehr leisten kann. Und auf die Frage, welche der beiden Personen wohl eher ihren Arbeitgeber wechseln würde, um eine Stelle in einer anderen Firma anzunehmen, gab eine zweite Gruppe von Probanden die Antwort: Carol. Was ebenfalls darauf hindeutet, dass reale Güterverhältnisse in der ökonomischen Entscheidungsfindung keineswegs die Rolle spielen, die ihnen die herrschende Ansicht zuteilt. All diese Beispiele zeigen, dass die Menschen in einer Geldgesellschaft nicht in Realgrößen, sondern „in Geld“ denken. Sicherlich: Ausnahmen bestätigen die Regel. Klar. Aber wäre dem nicht so, dann erschiene es kaum erklärlich, weshalb sich um Fragen von Werbung und Verkaufsförderung eine ganze Beratungsindustrie herausgebildet hat, die in ihren Strategien auf psychologische und Wahrnehmungseffekte setzt.

Für seine bahnbrechenden Erkenntnisse auf diesem Gebiet, die eines Tages hoffentlich zu einer vollständigen Revision der aktuellen Lehrbuch-Ökonomie führen werden, erhielt einer der Protagonisten der Behavioral Economics, der israelische Psychologe Daniel Kahnemann im Jahr 2002 den Nobelpreis für Ökonomie. Und noch ein anderer Nobelpreisträger, der US Ökonom George Akerlof, setzte sich intensiv mit dem Thema auseinander: Er widmete der Geldillusion ein ganzes Kapitel im gemeinsam mit Kollegen Robert Shiller verfassten „Animal Spirits“ – dem Entwurf einer neuen, realitätsnähern Ökonomie. Darin verweisen auch sie auf zahllose empirischer Befunde, die klar darauf hindeuten, dass es in der modernen Geldwirtschaft tatsächlich ums Geld geht und nicht um reale Zusammenhänge. Ihr Fazit: „Wenn so viele Geschäfte auf der Basis nominaler Geldwerte abgeschlossen werden, dann können wir wohl kaum davon ausgehen, dass Geld nichts weiter sei als ein Schleier.“ Vor allem ein Hinweis in ihrer Beweisführung sollte stutzig machen: Noch nicht einmal die „High Rollers“, die Analysten, Börsenhändler und Fondsmanager, sind demnach offenbar willens oder in der Lage, die wahren Zusammenhänge zu durchschauen. Akerlof und Shiller kommentieren dahingehende Ergebnisse von Kollegen: „Die Frage lautet, ob die Aktienkurse eines Unternehmens seine inflationsbereinigten Gewinne widerspiegeln oder die entsprechenden Nominalwerte der Gewinne. Modiglianis und Cohns Ergebnissen zufolge gelingt es den Akteuren auf den Aktienmärkten nicht, den Schleier des Geldes zu durchschauen.“

Müßig hinzuzufügen, dass sich die Wirtschaftswissenschaft damit allmählich dem Niveau annähert, auf dem sich die Soziologie bereits mindestens seit den 70er-Jahren befindet. Ich selbst lese daher seit geraumer Zeit nur noch Soziologen, aber keine Ökonomen mehr. Der Schwenk könnte Konsequenzen haben, vor denen viele Jünger der Disziplin erschaudern werden; denn jegliche Vorstellung von „allgemeinem Gleichgewicht“ der Märkte ist dann passé. Schlecht für die Politik und ihre Heilsversprechen, und schlecht für die vielen „Experten“, die der Politik das akademische Futter für ihre Heilsversprechen verkaufen. 

 

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