Das bemerkenswerteste Buch der vergangenen „Rentrée littéraire“ in Frankreich hat Tristan Garcia geschrieben. Es war sein Debütroman, trug den Titel „La meilleure part des hommes“ und handelte von dem schwulen Paar William und Dominique, das in den Exzessen des Pariser Nachtlebens der frühen achtziger Jahre alles verliert: Den Glauben, die Freunde und das Leben.
Das alles wäre vermutlich nicht mehr der Rede wert, wenn der Autor dieses Romans, eben Tristan Garcia, nicht jemand wäre, der diese Zeit gar nicht bewusst erlebt hat, und der also über sie schrieb, als wäre sie selbstverständlich schon historisch. Garcia wurde 1981 geboren, er wuchs weit weg von Paris in Algerien, Chartres und Toulouse auf, hat nach dem Abitur die renommierte Ecole Normale Supérieure besucht und unterrichtet heute Philosophie an der Universität von Amiens. Er lebt im Norden von Paris und hat vorgeschlagen, dass wir uns in einem Café an der Metrostation „Stalingrad“ treffen, dem Platz, an dem Paris allmählich in die Banlieue übergeht.
Das erste politische Ereignis, an das er sich erinnern könne, sagt er, während er an seiner Cola nippt, sei der Fall der Berliner Mauer gewesen. Von der Zeit davor, also von den achtziger Jahren, wisse er nur aus der Schule und dem Studium. Diese Zeit soll anders gewesen sein als jene, in der seine Eltern noch Jugendliche waren. „Die achtziger Jahre sind wie eine Art Mauer, die meine Generation von den vorherigen trennt. Die Nachkriegsgenerationen kannten noch Ideale. In den Neunzigern aber gab es keine großen idealistischen Bewegungen mehr. Alle, die mit mir heranwuchsen, waren komplett in die Konsumgesellschaft integriert. Das war vorher anders.“
Für Garcia, der sich also nach eigenem Bekunden intensiv mit diesen „Mauerjahren“ beschäftigt hat, stellen sich die Achtziger als ein „No Man’s Land“ dar. Eine Zeit, in welcher der Neoliberalismus und der moderne Individualismus geboren wurden, in welcher die Generation seiner Eltern aufhörte, an die Ideen zu glauben, für die sie einst gekämpft hatte. Eine Zeit, in der alle Werte verloren gingen. Und genau darum geht es auch in seinem Buch (an dem übrigens die Deutsche Verlagsanstalt die Recht erworben hat; der Verleger, so ist zu hören, sucht gerade nach einem Übersetzer).
War also früher alles besser?
„Nein“, sagt Garcia, „ich bin nicht nostalgisch. A posteriori ist in Frankreich ein großer Mythos um die Nachkriegszeit entstanden. Man sagt immer, es habe Sartre und Foucault gegeben. Aber es gab auch eine Menge schlechter Leute, in der Literatur beispielsweise sind während der siebziger und achtziger Jahren nur sehr, sehr wenige gute Romane erschienen“. Außerdem, so fügt Garcia hinzu, sei es eine „mühsame“ Zeit gewesen, „weil sie sehr politisch war. Man musste ja, wenn man etwas gelten wollte, linksliberal sein, wenn nicht marxistisch. Es ist gut, dass wir uns davon heute befreit haben.“
Tristan Garcia spricht sehr leise. Er trägt eine verwaschene Jeans, einen Pullover, von dem man schon nach fünf Minuten nicht mehr weiß, wie er aussah, und außerdem einen Schal. Möglicherweise würde man Garcia auf der Straße einfach übersehen. Wer ihm begegnet, lernt aber einen höflichen und hochgebildeten jungen Mann kennen, wie sie die französischen Elitehochschulen immer wieder hervorbringen. Jemand, den man lieber nicht nach dem kürzesten Weg zum „ Parc des Princes“ fragt, der aber alles sagen kann über die „Formen der Repräsentation von der Erfindung der Fotografie bis heute“. Darüber hat er promoviert.
Wie würden denn Existentialisten in Paris heute leben?
„Vermutlich hätten sie es schwer, weil es keine Avantgarde-Bewegung mehr gibt. Im Grunde waren es ja damals auch nur Sartre und Camus, die den Existentialismus im Kern ausmachten. Merleau-Ponty zum Beispiel wollte nie zu dieser Bewegung gezählt werden. Und ich bin nicht mal sicher, dass die besten Romane dieser Zeit tatsächlich von Sartre oder Camus stammen. Es gab andere, die man erst später wieder entdeckt hat.“
Zum Beispiel?
„Raymond Guérin. Sein Roman „L’apprenti“ erzählt die Geschichte eines Lehrlings in einem großen Pariser Hotel in den vierziger Jahren. Das Buch ist besser als „La nausée“ (Der Ekel) oder „Les chemins de la liberté“ (Die Wege der Freiheit).“
Aber Sartre ist doch im öffentlichen Diskurs Frankreichs heute nach wie vor extrem präsent!
„Das Problem von Sartre ist aber, dass sein geistiger Nachlass von offiziellen Denkern besetzt ist. Vor allem von Bernard Henri-Lévy. Der ist aber kein Philosoph. Er schreibt Essays und Zeitungsartikel, über die man geteilter Meinung sein kann. Er verfügt außerdem über den ausgeprägten Habitus eines Intellektuellen. Aber er hat kein philosophisches Werk geschaffen, auf das er sich stützen könnte.“
Gibt es also heute gar keine echten Existentialisten mehr in Frankreich?
„Nicht wirklich. Und deswegen wird Sartres Bedeutung als Philosoph heute auch unterschätzt. An den Universitäten wirft man ihm vor, zu viel von Heidegger kopiert zu haben. Über Heidegger wird deswegen mehr geforscht als über Sartre. Man kann schon sagen: In anderen Ländern ist Sartre heute wichtiger als in Frankreich selbst.“
Und dann bricht Tristan Garcia auf. Wir verabschieden uns an einer Ampel, er geht gen Norden, obwohl Menschen wie er in der guten alten Zeit vermutlich eher gen Süden gegangen wären, in Richtung „Rive gauche“, das sich heute allerdings niemand mehr leisten kann. In dem neuen Buch, an dem er gerade arbeitet, wird es um Affen gehen. Es wird eine Art Abenteuerroman, der inspiriert ist von der wahren Geschichte einer französischen Familie, die in den sechziger Jahren zu Hause einen Affen großzog und ihn behandelte, als wäre er einer der ihren. „Ich glaube immer weniger an die Besonderheit der menschlichen Wesen“, hat Garcia dazu erklärt. Und weiter weg kann man vom Existentialismus ja wirklich nicht sein.