Place de la République

Die Kunst und die Banlieue

In Marseille gibt es viele Häuser, aus deren Fenstern halbe Fahrräder hängen. Von unten betrachtet sehen die Fassaden aus wie Setzkästen, deren Fächer mal belegt und mal unbelegt sind. Wer sich in einer Gegend befindet, in der die Häuser aussehen wie Setzkästen, der weiß, dass es ein Ort ist, an dem es zu gefährlich ist, die Fahrräder über Nacht auf den Gehwegen zu parken. Aber oben in den Wohnungen ist für sie eigentlich auch kein Platz. Man befindet sich also in einer Banlieue.

Marseille habe gar keine richtige Banlieue, sagen die, die hier wohnen. Das liege daran, dass Marseille eine aus Dörfern zusammengewachsene Stadt sei, und dass die berüchtigten „Citès“ – also die einzelnen Wohnblocks – nie als Ballungszentren angelegt wurden, sondern immer nur zwischen den einzelnen Dörfern entstanden. Das Ergebnis dieser Bebauungspolitik sei, dass keine richtige Banlieue entstehen konnte, weil sich die verschiedenen Bevölkerungsgruppen mischen würden. Und diese Mischung, „métissage“ genannt, soll einer der Gründe dafür sein, dass Marseille nicht explodiert.

Denn eigentlich wären alle sozialen Voraussetzungen dafür gegeben: Marseille ist die ärmste Stadt Frankreichs, die Arbeitslosenquote der Stadt lag im vierten Quartal 2008 bei 11,6 Prozent – gegenüber 7,6 Prozent in ganz Frankreich. Es heißt, dass in Marseille rund 25 Prozent der Bevölkerung von einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze leben, die in Frankreich bei etwa 730 Euro im Monat liegt. Außerdem leben in Marseille die Angehörigen verschiedenster Volksgruppen zusammen, was neben der Lage der Stadt am Mittelmeer ein Grund dafür ist, dass sich Marseille als Tor zum Orient versteht. Die Bewerbung für den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2013“ fußte denn auch im wesentlichen auf diesen zwei Punkten: Erstens, so hieß es, habe Marseille den Titel wirtschaftlich nötiger als andere französische Städte. Und zweitens könne Europa von der funktionierenden „métissage“ in Marseille etwas lernen.

So richtig gut geht es den Menschen in den angesprochenen Cités aber freilich nicht. Die Wohnblocks liegen meist alle im Norden der Stadt, von wo ihre Bewohner zwar einen spektakulären Blick auf das Meer haben. Aber sie haben eben keinen direkten Zugang zum Wasser, deswegen gilt der Norden in Marseille als arm. In der Cité „La Bricarde“ versucht die Wohnungsbaugesellschaft „Logirem“ deswegen jetzt mit einem gut gemeinten Kunst-Projekt die Stimmung zu heben. „La Bricarde“ ist so ein Ort, an dem die Fahrräder aus den Fenstern hängen. Man sagt, vor rund zehn Jahren hätte man dieses Viertel alleine nicht betreten dürfen. Es liegt gleich neben der Cíté „La Castellane“, wo der (neben Platini) beste französische Fußballspieler aller Zeiten groß geworden ist: Zinédine Zidane.

In „La Bricarde“ also tauchte vor rund sechs Monaten Yazid Oulab auf. Der Mann wurde 1958 in Istanbul geboren, er ist Künstler und erklärte sich bereit, mit den Bewohnern der Cité zusammenzuarbeiten. Jeder, der Lust dazu hatte, sollte ihm einen Gegenstand bringen, der sein Leben repräsentiert, der eine besondere Bedeutung hat und den man den anderen Menschen in der Cité gerne zeigen möchte. Diese Gegenstände ließ Oulab dann zum Teil vergrößern und hob sie auf große Regalbretter, die an den Außenwänden der Häuser angebracht wurden.

Und da hängen sie jetzt: überdimensionale Wäscheklammern, riesige Dominosteine und eine Schubkarre. Wenn man nicht auf sie aufmerksam gemacht würde, könnte man sie in der Höhe von rund zehn Metern schnell übersehen. Aber daran ist bei der offiziellen „Vernissage“ natürlich nicht zu denken. Die rund dreißig Menschen, die der Einladung von „Logirem“ gefolgt sind, kommen fast alle von einer der Organisationen, die geholfen haben, das Projekt zu finanzieren. Es sind Vertreter vom Conseil régional, vom Conseil général, von der Stadt, ein paar Journalisten. Sie alle sehen  wie krasse Fremdkörper aus vor den kargen Häusern, vor denen sie nun die Köpfe in die Nacken legen. Was könnte man jetzt Kluges über die Kunst sagen? Aber was soll man auch sagen zu einer Schubkarre an der Wand?

Nur der Direktor der Wohnungsbaugesellschaft kommt um eine kurze Rede nicht herum. Jean-Marc Pinet sagt: „Diese Cité ist ein kleines Labor. Das Projekt erlaubt uns, einen anderen Blick auf die Dinge zu werfen. Das ist gut, denn die Einwohner der Stadt sollen auch die Gesichter von ,Marseille 2013′ sein.“ Er sagt: „Merci, weil… das ist gut. Merci.“ Dann gibt er das Mikro weiter an Yazid Oulab, der sagt auch: „Merci“. Dann gibt es etwas zu essen. Derweil haben sich ein paar Bewohner der Cité unter die offizielle Delegation gemischt, viele Kinder halten respektvollen und neugierigen Abstand. Einer der Jugendlichen aber macht seinem Unmut leise Luft. Er habe den sogenannten Künstler hier noch nie gesehen, kein Mensch wisse, woher er komme. Außerdem gebe es zwanzig sogenannte Vereine in diesem Wohnblock, von denen fünfzehn Subventionen bekämen, ohne für ihr Geld etwas zu tun. Er selbst fahre mit den Kindern manchmal hinaus ans Meer oder sonst wohin, damit sie mal etwas anderes zu sehen bekämen als diese Cité. Er aber bekomme kein Geld.

Und natürlich kann es sein, dass einem dieser Junge mit dem Goldkettchen um den Hals hier gerade alles Mögliche erzählt. Aber vielleicht steckt auch ein Funken Wahrheit in dem, was er sagt. Und ohnehin muss man sich angesichts dieses ganzen Projektes doch wieder einmal fragen: Was ist das denn überhaupt, die „métissage“?

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