Wer immer es sich leisten kann, etwas auf sich zu halten, ist im Moment nicht in Paris. Es gehört sich einfach nicht. Der 15. August ist in Frankreich immerhin so etwas wie der Höhepunkt des Sommers, ein Tag wie aus dem Jahr gefallen, an dem eine ganze Nation regungslos in der Sonne liegt. Wer an einem solchen Tag in Paris sein muss, kann davon ausgehen, dass ihn sehr bald das schwer zu ertragende Gefühl befallen wird, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. So falsch, dass hier selbst das Kaufhaus Printemps der Öffentlichkeit vorsichtshalber auf großen Plakaten mitteilt, man habe an Mariä Himmelfahrt exceptionnellement doch geöffnet. Für den Fall, dass jemand in der Stadt sein sollte.
Dabei ist es gar nicht unangenehm in Paris. Man kann hier zurzeit etwas finden, was es sonst nie gibt: Platz und Ruhe. Vormittags um zehn Uhr ist es auf dem Boulevard Sébastopol so still, wie sonst nur an einem frühen Sonntagmorgen. Es wird auch nicht lauter, je näher man sich in Richtung des Zentrums begibt. Ein paar Touristen laufen zwar durch die Gegend, aber sie konzentrieren sich meist dort, wo man sie ohnehin vermutet, an Notre-Dame und im Louvre zum Beispiel. Die Nebenstraßen aber sind alle leer, die Metro ist leer, die Geschäfte sind leer, die Verkäuferinnen gähnen hinter den Tresen.
Das alles ist schon erholsam genug. Aber es wird noch besser. Auf dem Pont Saint-Louis, unweit von Notre-Dame und gegenüber des Seine-Ufers, an dem sich wieder „Paris-Plage“ breit gemacht hat, sitzen in diesen Tagen ein paar Menschen auf kleinen Schemeln in einer Reihe und bieten Massagen an, kostenlos. Sie nennen sich „agents antistress“ und behaupten auf kleinen, selbst gebastelten Plakaten, die sie auf Musikständern befestigt haben, ihr Ziel sei kein anderes als den Menschen zehn Minuten Ruhe zu schenken, einen winzigen Augenblick der Entspannung, der „décontraction à la Française“.
Es stehen viele Menschen auf dem Pont Saint-Louis, manche schauen nur, andere lassen sich tatsächlich massieren. Sie sitzen ordentlich einer neben dem anderen, halten die Augen geschlossen, lassen ihre Arme neben dem Körper baumeln und die Gesichtszüge unter dem Druck der fremden Hände langsam entgleiten. Ich zögere. Massagen sind ja schön und gut, aber sie sind auch privat. Gibt es einen religiösen Hintergrund? Gehören Sie zu einer Sekte? Muss ich am Ende irgendwas unterschreiben? Soll das tatsächlich gar nichts kosten? „Nein, nichts von all dem“, sagt eine junge Frau. Sie sagt: „Setz‘ Dich ganz locker hin und schließe die Augen, wenn das für Dich möglich ist.“ Ist möglich. Und so sitze ich da, die Hände der Frau massieren den Nacken, die Schultern, den Rücken, die Arme, die Sonne scheint mir ins Gesicht und ich würde sofort einschlafen, wenn ich nicht sitzen würde.
Man muss sich das einmal vorstellen. Da sitzen wildfremde Menschen am helllichten Tag mitten in Paris und bieten Massagen an. Und wollen gar nichts dafür. Außer Trinkgeld, gut. Und außer – dann doch – einer Unterschrift. Die „agents antistress“ haben im Jahr 2003 in der Rue Mouffetard, einer sehr schönen kleinen Straße im feinen sechsten Arrondissement von Paris, angefangen zu tun, was sie eben tun. Langsam, erzählt die Frau, seien immer mehr Menschen zu ihnen gestoßen. Sie haben sich eine kleine Massage beibringen lassen von dem Gründer André Choukroun, der mit seinen blauen Brillengläsern und den Zöpfen rechts und links des Kopfes aussieht als hätte er auch mal eine Massage nötig. Dann haben sie sich irgendwann in das Stadtzentrum gewagt, und weil es so gut läuft, wollen sie im Winter ihre Dienste auch in der Pariser Metro anbieten. Dafür brauchen sie aber von der Stadt eine Erlaubnis. Nun haben sie eine Petition vorbereitet, für die sie Unterschriften sammeln.
Ich stelle mir vor, wie diese wackeren Menschen im Winter mit fingerlosen Handschuhen in den gekachelten Gängen der Metro stehen, der Wund pfeift durch die U-Bahn-Schächte, die Züge quietschen, jemand spielt ein Akkordeon. Ich stelle mir vor, wie sich diese Bewegung verbreitet, von Peking nach New York und in die dortige U-Bahn, nach Berlin, nach London und womöglich sogar nach Frankfurt… ich unterschrieb.
Es freut mich einen Anlass zu...
Es freut mich einen Anlass zu finden in Erinnerungen an Paris zu schwelgen, aber man merkt, dass Sie noch nicht lange in Paris gelebt haben. Wer laenger als 6 Monate in Paris verbracht hat stoesst sich an den immer wieder gedroschenen Clichees… und die rue Mouffetard liegt hinter dem lycee henri IV im fuenften!
Bonjour Madame,
eine kleine,...
Bonjour Madame,
eine kleine, vielleicht auch etwas boshafte Frage:
Wo schreiben Sie Ihre Artikel? In Paris oder im Büro in Frankfurt?
Die Rue Mouffetard „einer sehr schönen kleinen Straße im feinen sechsten Arrodissement“, wie Sie schreiben, liegt nicht im 6., sondern im studentische, aufmüpfigen Quartier Latin im 5. Arrodissement und ist eines der Herzstücke im Viertel. Ganz davon abgesehen, können Sie sich vorstellen, dass eine solche Idee wie die „agents antistress“ anderswo entstehen kann als dort, wo die Jugend zu Hause ist?
Und kann es sein, dass Sie darüber hinaus das 6. mit St. Germain mit dem wirklich feinen 7. verwechseln?
Aber an sonsten haben Sie recht: Paris im August ist eine Welt für sich. Dazu kommt: Der 15. August, das Fest Maria Himmelfahrt, ist für das ach so laizistische Frankreich einer der höchsten kirchlichen Feiertage und arbeitsfreier Tag. Un die Pariser, die im August in ihren Büros die Stallwachen übernommen haben, nehmen die ein oder zwei Brückentage und fliehen zu ihren Familien oder Freunden. Ich glaube es gibt keinen Zeitpunkt im Jahr, in dem Paris so ruhig, bedächtig und leise ein kann wie um den 15. August. Die Zeit für Flaneure, die Muse haben, die Stadt kennen zu lernen.