Von Brigitte Fontaine weiß man, dass sie seit Menschengedenken auf der Pariser Île Saint-Louis wohnt. Es kann durchaus sein, dass sie schon seit hundert oder sogar seit mehreren hundert Jahren dort lebt, so lange eben wie es braucht, um geschätzte vierzig Platten, ein Dutzend Bücher, knapp zehn Theaterstücke und drei Kinder in die Welt zu setzen (vielleicht sind es auch noch mehr Kinder gewesen, man weiß es nicht genau). Dem „Télégramme“, der Zeitung ihres bretonischen Heimatortes Morlaix, hat sie vor rund einem Jahr jedenfalls anvertraut: „Ich bin zwanzigtausend Jahre alt.“
Als sie siebzehn war, hat sie ihre Heimat verlassen und ist nach Paris gezogen. Dort hat sie zunächst Theater gespielt, sich dann aber dem Diktat ihres eifersüchtigen Freundes gebeugt, der sie nicht umringt von fremden Männern auf einer Bühne sehen wollte. Also hat sie den Weg durch die Hintertür gewählt, eine Gitarre gekauft, Chansons geschrieben und die Bühne wieder betreten. Schon ihre erste, 1968 erschienene Solo-Platte gab dann die Richtung vor: „Brigitte Fontaine est folle“ war der Titel (Brigitte Fontaine ist verrückt), und das daraus resultierende Image, eine französische Mischung aus Janis Joplin und Nina Hagen zu sein, der nichts fremd ist, dieses Image ist sie nie wieder los geworden. Manchmal hat sie sich dagegen gewehrt und gesagt, die Menschen würden sie als verrückt bezeichnen, ohne zu wissen, was Wahnsinn überhaupt bedeute. Dass man sich vor ihm nicht fürchten muss, hat sie oft bewiesen. Dass er aber auch wunderschön sein kann, zeigt sie in ihrem neuen Buch.
„Le bon peuple du sang“ heißt die schmale Sammlung aus „récits & variations“, aus Kurzgeschichten, Fabeln, Märchen und Briefen, die nun in Frankreich erschienen ist. Eigentlich wäre das nicht weiter der Rede wert, denn Brigitte Fontaine veröffentlicht ständig irgendetwas. Aber ihr neues Buch ist politischer, aggressiver und grundsätzlicher als das, was man seit langem gemeinhin mit ihr assoziiert. Es ist eine Abrechnung nicht nur mit den in „autofictions“ verliebten französischen Schriftstellern, sondern mit einer ganzen Gesellschaft, die am liebsten zum Essen geht, zur Massage, zur Maniküre und zum Therapeuten. „Et les autres alors?“, fragt Fontaine. Wo bleiben die anderen? Und dann erzählt sie ihre Geschichten.
Es sind Geschichten von Mördern und Selbstmördern, Gefangenen und Abgeschobenen, von Verrückten und Häßlichen: Eine Prostituierte ersticht in Notwehr einen Freier, einen konservativen Abgeordneten, und kommt dafür zehn Jahre ins Gefängnis. Eine alte Frau stirbt in der Wohnung und wird von ihren einundzwanzig Katzen gefressen. Eine junge Frau wird von ihrem alten Mann geschlagen und geschwängert, bis der sie für eine noch jüngere Frau verlässt. Zwei verliebte Schwäne fliegen am Himmel, einer wird abgeschossen und fällt, der andere nimmt ihn auf den Rücken und bringt ihn sicher zur Erde, wo auch er getötet wird. Und dann ist da noch dieser Brief, in dem sie einen nicht näher beschriebenen Präsidenten („Monsieur le Président“) auf eine Art und Weise beleidigt, erniedrigt und verspottet, die hier nicht zitiert werden kann. In der Zusammenfassung klingt das natürlich alles irgendwie unzivilisiert, es klingt, als habe man es schon tausend Mal gehört und deswegen langweilig. Aber Brigitte Fontaine ist keine Schlächterin. Vielmehr erweist sie sich wieder einmal als feinsinnige Dichterin, welche die Geschichten all derer, die auf der dunklen Seite der Erde leben, in eine Sprache zu hüllen vermag, die so poetisch und so liebevoll ist, dass ihre Protagonisten augenblicklich aus der Misere gehoben werden, die ihr Leben ist. So werden sie zu den eigentlichen Helden des Alltags, denen Brigitte Fontaine in ihrer tausendjährigen Geschichte immer treu geblieben ist.
Für eine Frau, die einmal gesagt hat, vor allem den vielen amerikanischen Touristen auf der Île Saint-Louis im Vorbeigehen zuweilen gerne in den Hintern zu treten, ist das nicht ungewöhnlich. In Frankreich aber sind solche Stimmen selten geworden. Und deswegen denke ich: Brigitte Fontaine soll ewig leben.
Brigitte Fontaine. Le bon peuple du sang. Flammarion 2010. 220 Seiten, 17 Euro.