Place de la République

Place de la République

Chansons, Existentialismus, französische Malerei – alles vorbei? Ganz im Gegenteil. In New Yorker Klubs hört man Musik aus Paris, in China liest

Eine Phänomenologie des Foulspiels: Ollivier Pourriol erklärt den Fußball

Vor kurzem ist in Frankreich ein kleines Buch erschienen, das sich passend zur Fußball-Weltmeisterschaft, die in wenigen Tagen in Südafrika beginnt, einem...

Vor kurzem ist in Frankreich ein kleines Buch erschienen, das sich passend zur Fußball-Weltmeisterschaft, die in wenigen Tagen in Südafrika beginnt, einem Thema widmet, das uns alle faszinieren dürfte, ohne dass wir den Eindruck haben, dies allzu offen zugeben zu dürfen, und vielleicht auch, ohne dass wir überhaupt wissen, warum: Es geht um das Foulspiel. Ollivier Pourriol, Absolvent der „Ecole normale supérieure“ in Paris, Dozent der Philosophie, hat sich der Sache angenommen. Er bezeichnet das Foulspiel als „mauvais geste“, als schlechte Geste, und widmet ihr in seinem Buch „Eloge du mauvais geste“ (etwa: Lob des Foulspiels) eine kleine, aber sehr feine Liebeserklärung. 

Ollivier Pourriol hat sich die sechs berühmtesten, brutalsten, fiesesten Foulspiele der Fußballgeschichte herausgesucht:

– den Kopfstoß, mit dem Zinedine Zidane seinen italienischen Gegenspieler Marco Materazzi im Finale der Weltmeisterschaft 2006 zu Boden streckte,

– die „Hand Gottes“ von Diego Maradona im Viertelfinale der WM 1986,

– das Handspiel von Thierry Henry im WM-Qualifikationsspiel gegen Irland im November 2009,

– den Kung-Fu-Tritt, mit dem Eric Cantona einen unbekannten Fan während eines englischen Meisterschaftsspiels 1995 gegen die Brust trat,

– Toni Schumacher, der den Franzosen Patrick Battiston drei Zähne ausschlug, als er ihn im Halbfinale der WM 1982 kurz vor dem Tor foulte,

–  und schließlich: die Freude von Michel Platini, der im Finale der Champions League 1985 ein Tor bejubelt, obwohl kurz vor dem Spiel bei einer Massenpanik auf den Tribünen neununddreißig Menschen ums Leben gekommen waren. 

Anders als man es gewohnt ist, analysiert Pourriol diese Gesten aber nicht nur innerhalb des fußballerischen Kontextes, wägt also ihre Kosten und ihren Nutzen in einem konkreten Spiel ab. Vielmehr löst er sie aus dem engen Regelkorsett des Spiels, um sie als Gesten eben nicht nur von Fußballern, sondern von Menschen zu betrachten. Zidane ist hier nicht nur der Kapitän, der die französische Mannschaft zum WM-Sieg führen soll, weil das seine Pflicht ist. Er ist Zinedine, der Mann, der es nicht ertragen kann, dass seine Mutter und seine Schwester von einem anderen beleidigt werden. 

Eric Cantona wird indes unter dem Blick Pourriols zu einem Künstler. Er wagt das Unmögliche: Er überwindet mit einem Kung-Fu-Sprung eine Barriere, um einen Fan zu treten. Ollivier Pourriol erinnert diese Szene an einen Satz von André Breton, der in seinem berühmten surrealistischen Manifest schrieb: „Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings, so viel wie möglich, in die Menge zu schießen.“ Diese Provokation, dieses Loblieb auf den unkontrollierten Ausbruch bezieht Pourriol nun aber nicht nur auf die Kunst, sondern auch auf den Sport. So wie das Werk des Surrealisten auf spontane, intuitive, beinahe spasmische Weise entsteht, genauso entsteht auch der Fußtritt von Eric Cantona, der nach Art und Ausführung vor allem eines ist: ein umgekehrtes Meisterwerk, ein Meisterwerk des Schlechten. Aus dem Fußballer Eric Cantona wird so ein Künstler – Eric, der Surrealist.

 

Monsieur Pourriol, Sie wissen ja, dass man auch in Deutschland vor kurzem sehr ausführlich über ein Foulspiel diskutiert hat: Kevin-Prince Boateng trat Michael Ballack auf den Fuß, der sich daraufhin mit einem Bänderriss von der Weltmeisterschaft verabschieden musste. Ich dachte zunächst, dass dieses Foul – einfach, weil es ein so folgenschweres Foul war – in Ihrem Buch ebenfalls gut aufgehoben wäre. Aber nach der Lektüre habe ich meine Meinung geändert. Das Foul von Boateng ist zu gewöhnlich, zu banal.

Das Problem an diesem Foul ist vor allem, dass es Michael Ballack ist, also der bekanntere Spieler, der gefoult wurde. Dass ein großer Spieler gefoult wird, passiert ständig. Diese Gesten interessieren mich nicht, das sind nur Gesten, die das Spiel zerstören, sie sind kleinlich und schäbig. Mich interessiert vielmehr, wenn es einer dieser großen, guten Spieler selbst ist, der ein außergewöhnliches Foul begeht. Gesten, die eine gewisse Größe in sich tragen und die von großen Spielern ausgeführt werden. 

Wie hängt denn die Größe der Geste mit dem Status des Spielers zusammen?

Auf zweierlei Weise. Zum einen löst ein solches Foul natürlich Enttäuschung aus, weil man von großen Spielern seltsamerweise immer erwartet, dass sie sich vorbildhaft benehmen. Und zum anderen sind anerkannte Spieler viel sichtbarer als die anderen, weil die Kameras auf sie gerichtet sind, auch wenn sie gar nicht spielen. Nur so konnte der Kopfstoß von Zinedine Zidane im Finale der WM 2006 eine solche Wirkung entfalten, denn in dem Moment, in dem er ihn ausführte, war er gar nicht am Ball. Hinzu kommt schließlich aber auch die Art, wie die Geste ausgeführt wird. Bei einem Spieler von hohem Niveau spricht die Geste immer an seiner statt. Denn das sind Menschen, deren Körper beinahe unabhängig von ihrem Geist sind, sie tun Dinge, über die sie nicht unbedingt nachgedacht haben. 

Die Geste charakterisiert den Menschen.

Das ist es, was einen Athleten ausmacht. Ein Athlet ist jemand, der zum Ziel gelangt, ohne es bewusst anzupeilen. Er ist trainiert, alles ist in den Körper übergegangen, der Körper kennt eine eigene Wahrheit. 

Und die Wahrheit, die der Körper von Eric Cantona ausdrückt, wäre demnach die eines surrealistischen Künstlers? 

So habe ich formuliert. Seine Geste ist gleichzeitig die eines Machos, eines Kindes, das davon träumt, so zu sein wie die Helden in den Kung-Fu-Filmen. Aber es ist eben auch eine verrückte Geste, weil sie die Grenze zwischen dem anonymen Zuschauer und dem sichtbaren, stets gefilmten Helden zerstört. Außerdem ist es nicht einfach ein Faustschlag nach englischer Art, sondern ein Fußtritt. Die Geste von Cantona erfindet etwas, schafft etwas Neues, deswegen ist sie verblüffend. 

Und wie könnte man dann das Foul von Toni Schumacher an Patrick Battiston beschreiben? 

Dank dieses Fouls hat die französische Mannschaft ihr Potential entdeckt. Dank Schumacher hat die ganze Mannschaft ihre Zweifel verloren, es war, wie es oft ist: Die Wut macht die Angst vergessen. Durch die Wut hat die französische Mannschaft ihre Hemmungen verloren und das beste Spiel der damaligen Zeit gemacht. Bevor ich für das Buch recherchiert habe, hatte ich ein sehr schlechtes Bild von Schumacher. Was denkt man eigentlich in Deutschland über ihn?

Ich glaube, wer von Toni Schumacher redet, denkt als erstes an dieses Foulspiel. Man fürchtet und bewundert ihn. 

Er ist ein Verrückter, aber im guten Sinn des Wortes. Es gibt viele Torwarte, die verrückt sind. Das ist ein Posten für Verrückte. 

Warum? 

Weil es eine einsame Position ist. Der Torwart ist die letzte Bastion, er muss seine Mannschaft retten, er spielt wenig, aber jedes Mal, wenn er es tut, ist es wesentlich. Ich habe die Autobiographie von Schumacher gelesen, die er natürlich nicht selbst geschrieben hat. Was aber interessant ist – bei ihm wie bei vielen anderen Spielern, von denen ich in meinem Buch spreche -, das ist, dass ihr Foulspiel jeweils das erste Kapitel füllt und gleichzeitig der Schlüssel zu dem ganzen Buch ist. Das gilt auch für Cantona und für Maradona. Alle Biographien über Maradona beginnen mit der „Hand Gottes“. Es sind immer diese unerklärlichen Gesten, die sich außerhalb des Erwartbaren bewegen, die das Interesse auf sich ziehen und ein Rätsel bilden. Ich versuche diese Rätsel zu lösen, ohne die Gesten zu bewerten. Ich sage nicht, das war gut oder schlecht. Ich versuche, das Wesen der Geste zu verstehen. 

Und was ist nun das Wesen der Schumacher-Geste? Sie sagten, Sie hatten vorher ein schlechtes Bild von ihm. Und danach?

Schumachers Geste ist die einzige, die ich nicht verteidige, weil man sie nicht verteidigen kann. Dafür lasse ich Schumacher selbst zu Wort kommen. Er sagt zwar, dass die Szene für ihn kein Foulspiel war, aber er gibt zu, dass sie ihn sein Leben lang beschäftigt und ihn verändert habe. Ich denke, man muss sie in einem größeren Zusammenhang sehen: Nicht nur Schumacher hat ein Foul begangen, auch der Schiedsrichter hat nicht funktioniert, und dank dieses Skandals konnte die französische Mannschaft auf einmal spielen, wie sie noch nie gespielt hatte: perfekt. Wie Aristoteles sagt: Es gibt auch eine Perfektion des Diebes, eine Perfektion der Krankheit, es gibt einen extremen Punkt von allem, und an diesem Abend hatte man den extremen Punkt erreicht: Das Foulspiel von Schumacher war wirklich schmutzig, der Irrtum des Schiedsrichters war frappierend, die französische Mannschaft hat so gut gespielt wie nie und doch verloren. Das Spiel fand den großen Widerhall gerade wegen dieser umgedrehten Perfektion. Dass eine Niederlage perfekt war, mag seltsam klingen, aber an diesem Abend war das so. 

Wenn man die Gesten so begreift, dann wäre die einzige, die in Bezug auf ihren Wahnsinn und ihre Abnormalität ein bisschen hinter den anderen zurückbleibt, das Handspiel von Thierry Henry im Qualifikationsspiel gegen Irland am 18. November 2009. 

Ja, denn das ist gar keine verrückte Geste. Dieses Handspiel ist viel weniger skandalös als dasjenige von Maradona, weil es nicht direkt zum Tor führte. In der Tat war das die Geste, deren Analyse mir am schwersten fiel. Diese Geste hat nicht dieselbe Größe wie die anderen, sie diente nur dazu, das Spiel zu gewinnen. Der Kopfstoß beispielsweise, den Zinedine Zidane Marco Materazzi verpasst hat, führte indes mit dazu, dass die Franzosen das Spiel verloren haben. Die Geste von Schumacher wiederum war von wahnsinniger Aggressivität; sie sollte verhindern, dass die Deutschen verlieren. Und der Fußtritt von Cantona war zu gar nichts nütze, er fand ja nach seinem Ausschluss vom Spiel statt. Das Handspiel von Henry aber ist kontrolliert, auch weil er danach noch so tut, als ob das Tor gültig gewesen wäre. Die schönste Geste bleibt für mich deswegen diejenige von Platini, denn sie zeigt wirklich, was moderner Fußball ist. 

Nämlich?

Auf der einen Seite gibt es das Spiel und die Spieler, die wie Kinder sind. Auf der anderen Seite ist Fußball auch immer ein Drama. Dazu gehört, dass der Spieler alles vergisst, was nicht unmittelbar mit dem Spiel zu tun hat. Und an dem Abend im Stade du Heysel 1985 führt die Tatsache, das Platini für die Zeit des Spiels vergaß, dass auf der Tribüne neununddreißig Menschen gestorben waren, zu einem Skandal. Die Leute sehen die Toten auf den Rängen und dann einen Typen auf dem Platz, der vor Freude in die Luft springt. Diese Bilder passen nicht zusammen und verstören, obwohl Platini im Grunde gar nichts Böses getan hat. Man hat von ihm erwartet, an diesem Abend ein erweitertes Bewusstsein vom Fußball zu haben, das ist mit dem Wesen des Spiels aber gar nicht zu vereinbaren. Diese Form von Problemen und Kontrasten kann nur das Fernsehen herstellen – deswegen war die ganze Sache auch nicht Platinis Problem, sondern ein Problem des Fernsehens. Es gab gar keinen Grund, ihm später seine Freude vorzuwerfen. Das ist das Paradox. 

Glauben Sie, dass die vielen Kameras, die das Fernsehen heute zur Verfügung hat, den Fußball verändert haben?

Sicherlich. Es hat ihn verändert, indem es bei den Spielern das Bewusstsein wachsen ließ, immer aus der Nähe gefilmt zu werden. Es ist derselbe Unterschied wie bei Schauspielern des Theaters und des Kinos. Der Fußball der siebziger und achtziger Jahre wurde von weitem gefilmt, und entsprechend übertrieben waren die Gesten. Heute weiß jeder, dass die Kameras einen in Großaufnahme und von allen Seiten filmen, oft sieht man Spieler, die eine Verletzung simulieren, auf dem Boden liegen und ein Auge öffnen, um zu sehen, ob sie noch im Bild sind. Genauso verhält es sich beim Torjubel, der bei vielen im Wortsinn filmreif geworden ist. Das mag zwar auch dazu führen, dass es weniger „mauvais geste“ gibt, aber sie sind sichtbarer als vorher. Der Einzige, für den das nicht gilt, ist der Schiedsrichter. 

Spielen Sie selbst Fußball?

Ist schon vorgekommen.

Und wer wird Weltmeister?

Schwer zu sagen. Man spricht von Spanien, Argentinien, England. Aber ich weiß es nicht, es ist unvorhersehbar. Das ist ja das Schöne.

Ollivier Pourriol. Eloge du mauvais geste. Editions NiL 2010, 123 Seiten, 13,50 Euro.