Der Juni ist die Zeit der Spaziergänger. Das versteht sich ein bisschen von selbst, denn auch in Paris ist der Permafrost des Winters endgültig verschwunden, die Sonne ist in die Stadt zurückgekehrt und überzieht wieder alles, was ihr begegnet, mit Anmut, Liebreiz und Charme. Man muss Paris in dieser Zeit einfach mögen, und weil die Kaufleute der Stadt das wissen, nutzen sie in jedem Jahr die Gunst der besonderen Stunde. Ein paar besonders findige von ihnen – vielleicht waren sie auch besonders verzweifelt, man weiß es nie – haben vor ein paar Jahren den „Designer’s Day“ ins Leben gerufen, einen immer im Juni stattfindenden Spaziergang durch die Showrooms und Galerien der Stadt, die die neuesten und manchmal eigens für diesen Anlass gefertigte Arbeiten ihrer Designer zeigen.
In diesem Jahr ist der „Designer’s Day“ zehn Jahre alt geworden, mittlerweile ist er eine feste Größe im Kalender der Stadt. In diesem zehnten Jahr sollte sich also alles um die Zahl Zehn drehen. Das lag so nahe, dass man sich sofort fragte, ob sie das ernst meinten. Aber die Organisatoren des „Designer’s Day“, eine Gruppe von edlen französischen Einrichtungshäusern, meinten es so, wie sie es sagten: „Dis moi dix“ (Sag‘ mir zehn), war das Motto, den sie allen Teilnehmern des diesjährigen Parcours mit auf den Weg gaben. Das aber nicht nur, wie sie versicherten, weil man im Jahr 2010 das erste kleine Jubiläum feierte, sondern vor allem weil die Zahl arithmetisch so interessant sei. Warum das so sein sollte, blieb ihr Geheimnis.
Denn tatsächlich drehten sich die interessantesten Arbeiten um alles – nur nicht um Zahlen. Die niederländische Graphikdesignerin Mieke Gerritzen zeigte im ausnahmsweise für das Publikum geöffneten „Institut français de la mode“ am Quai d’Austerlitz ihren satirischen Kurzfilm „Beautiful world“, der zwar schon aus dem Jahr 2006 stammt, aber nicht aus der Mode gekommen ist, im Gegenteil. Er besteht ausschließlich aus Text, aus Zitaten von Adorno, Rifkin, Deleuze und Sassen, die Gerritzen so klug miteinander verwebt hat, dass sie gleichzeitig auf die Gefahren geistiger Verarmung durch die Globalisierung verweisen wie auch auf den Reichtum an neuen Möglichkeiten. Das ist zwar alles nicht neu, aber angesichts des frappierenden Mangels an ernstzunehmenden Arbeiten auf dem diesjährigen „Designer’s Day“ blieb einem gar nichts anderes übrig als Mieke Gerritzen noch einmal zu bewundern.
An vielen anderen Orten der Stadt hatte man nämlich die Aufforderung zum Spiel mit der Zahl Zehn als Einladung zur Selbstbeweihräucherung missverstanden. Im Haus Christofle, das sich auf die Herstellung von feinem Silberbesteck spezialisiert hat, nahm man den Aufruf etwa zum Anlass, die nunmehr zehn Jahre dauernde Zusammenarbeit mit der Designerin Andrée Putman zu feiern. Eine Auswahl ihrer Schalen, Teller und Bestecke, denen stets ein eingearbeiteter asymmetrischer Ring als Markenzeichen dient, standen blank poliert im Showroom an der Rue Royale – und wirkten wie Zeugen aus einer vergangenen Zeit. Das hatte laut der Initiatoren des „Designer’s Day“ zwar gerade nicht das Ziel sein sollen, denn natürlich kann sich eine dem Zeitgeist so verpflichtete Branche wie das Design den Blick zurück nicht allzu häufig leisten. Aber es schien doch, als wäre nicht nur Christofle in diesem Jahr zur Zukunft einfach nicht viel eingefallen. Auch Boffi, der italienische Spezialist für Küchen und Bäder, hatte den Laden am Boulevard Saint-Germain dem Bühnenbildner Cédric Martineaud überlassen, der den Besuchern mithilfe von Videoinstallationen einen virtuellen Rundgang durch die zehn schönsten Küchen der vergangenen zwanzig Jahre anbot (denn: 2 mal 10 = 20).
Selbst den erlauchten Gästen des Symposiums zum Thema „Die Rolle der Kreativdirektoren in großen Unternehmen“ fiel nicht viel mehr ein als darauf zu verweisen wie schwierig, unberechenbar und langwierig kreative Arbeit sei. „Kreativität“, sagte etwa Thierry Métroz, Stil-Direktor bei Citroën, „muss man managen“. Und Corinne Poux, Innovations-Direktorin bei Hermès, erwiderte auf die Frage, ob die Kreativabteilung ihres Hauses in der Lage sei, Trends zu setzen, ja, manchmal setze sie Trends, manchmal drücke sie sie nur aus. Und weil das Wort Trend im Französischen mit „tendance“ übersetzt wird, fügte sie hinzu: „In dem Wort „tendance“ findet man die Worte „temps“ (Zeit) und „danse“ (Tanz). J’aime bien – Das mag ich.“ Und bei derart geballtem Tiefgang konnte man gar nicht anders als die Veranstaltung zu verlassen, um zu sehen, ob sich in Paris nicht doch noch jemand finden würde, der sich der Sache irgendwie anders angenommen hat.
Und tatsächlich: Der französische Designer François Azambourg hatte für den italienischen Möbelhersteller Poltrona Frau von einer Reise nach Burkina Faso einen ockerfarbenen, von den Tieren verlassenen Termitenhügel mitgebracht, den er mithilfe traditioneller afrikanischer Töpfertechniken in einen stattlichen Thron verwandelt hat. Ein Einzelstück, versteht sich. Überhaupt waren es überwiegend Sitzgelegenheiten, die am meisten Aufmerksamkeit auf sich zogen: Die Sitzsäcke, die zum Beispiel Maurizio Galante und Tal Lancman für das italienische Möbelhaus Cerruti Baleri entworfen haben, luden optisch zwar nicht zum Verweilen ein: Dem Kunststoffkern hatten die beiden Designer einen Bezug übergeworfen, der eine Kaktee mit großen, spitzen Dornen zeigte und dem Ensemble darüber hinaus den Titel „Coussin de belle mère“ (Das Kissen der Schwiegermutter) gegeben. Aber diesen Willen zum Witz sollte man doch belohnen, und bequem waren die Polster dann natürlich sowieso. Nicht ganz so sehr wie die Barhocker in der für die Fondation Ricard entworfenen Bar der Architekten Jakob+MacFarlane zwar, die in Farbe (orange) und Stil (Baukastenmodule) ein bisschen an das Intérieur im Film „Clockwork Orange“ erinnerten, aber das macht ja nichts. Einzig, wenn man beginnt zu überlegen, was das bedeuten könnte, dass ausgerechnet Sitzgelegenheiten zu den aufsehenerregensten Objekten des diesjährigen „Designer’s Day“ gehörten, gerät man kurz ins Zweifeln. Vielleicht sollte man Paris empfehlen, sich das nächste Mal auf Lampen zu konzentrieren. Mehr Licht könnte nicht schaden.