Place de la République

Das Leiden von Lyon

Vor kurzem bin ich nach Lyon gefahren, zum ersten Mal überhaupt. Mir war das peinlich.  Ich kenne so viele Ecken in Frankreich und bin so oft durch das Land gefahren, aber Lyon, das immerhin die zweitgrößte Stadt des Landes ist, lag irgendwie nie auf dem Weg. Meine Schuld ist das nicht. Lyon liegt einfach so weit abseits, es ist zwar mit dem Zug von Paris aus schnell zu erreichen, aber wer zum Beispiel von Deutschland nach Lyon fahren möchte, muss diesen enormen Umweg über die Hauptstadt auf sich nehmen und das verlängert die Fahrzeit auf wirklich unzumutbare acht bis zehn Stunden. Bleibt das Flugzeug, aber es gibt nur Linienflüge und wer die bezahlen möchte, braucht es einen wirklich guten Grund, um nach Lyon zu reisen. Neulich habe ich mir dann einfach einen gesucht. Anders ging es nicht. 

Ich war also in Lyon, und weil die Stadt eben, jaja, die zweitgrößte des Landes ist oder sein will – ganz klar ist das nie, weil auch Marseille diesen Titel für sich beansprucht – war ich auf eine echte Metropole gefasst, auf eine unübersichtliche, laute, von Menschen überflutete Stadt, die einen überfordert, beeindruckt und abstößt. Ich trat am Bahnhof von Part-Dieu aus dem Bus, den ich am Flughafen bestiegen  hatte und fand all das vor, worauf ich gefasst war: eine vielspurige Straße, ein riesiges häßliches Einkaufszentren, tausende Tunnel, die sich aus dem Nichts vor einem auftaten, Hitze, Gestank, Lärm, kurzum: Es war ein scheußliches Chaos. Dann aber, als ich die große Straße überquert und ein paar Ecken weiter gelaufen war, änderte sich das Bild, ganz plötzlich war alles ruhig und beinahe beschaulich, niemand drängelte auf dem Gehsteig, kein Auto hupte, die Sonne schien, die Schwalben zogen ihre Kreise zwischen den Häusern. Sogar die Dame an der Rezeption des Hotels lächelte freundlich und gab geduldig Auskunft darüber, wie ich zu der Adresse gelangen konnte, zu der ich wollte. 

Auf dem Weg dorthin durchquerte ich eine Stadt, die vor sich hin zu dösen schien. Dass dieser Eindruck entstand, hatte zwar sicher mehr mit meiner Erwartung an Lyon zu tun als mit der Wirklichkeit. Aber das machte ja nichts. Lyon war anders. Gemütlich, um nicht zu sagen gediegen, freundlich, lächelnd, und eben weil ich mich auf etwas anderes vorbereitet hatte, war Lyon zwei Tage lang eine Überraschung. Eine angenehme,  die auch nicht kleiner wurde, als ich mit einem Bekannten durch die Stadt spazierte, um mir von ihm ihre Geschichte erzählen zu lassen. Wir gingen durch Part-Dieu, das große Geschäftsviertel gleich am Bahnhof, das ewige Sorgenkind der Stadt. Seitdem das Viertel existiert, sind sich die Bewohner einig darüber, dass es sich um eine städtebauliche Katastrophe handelt, und seitdem fragen sie sich, was sie tun können, damit es schöner und lebenswerter wird. Große Hoffnungen haben sie damals, im Jahr 1981, in die schnelle Zugverbindung gesetzt, die Lyon mit Paris verbunden hat. Man konnte seither in zwei Stunden von Paris nach Lyon reisen und man dachte, dass das viele Unternehmen anlocken würde, denen Paris immer schon zu teuer und zu laut war, und die nichts lieber täten, als sich in Lyon niederzulassen. Jetzt, wo die Verbindung so schnell war. 

Das aber hat nicht funktioniert. Passiert ist nämlich genau das Gegenteil, immer häufiger reisten Geschäftsleute morgens nach Lyon und abends wieder zurück in die Hauptstadt, wo sie meistens wohnen und wo sich die Hauptgeschäftssitze ihrer Firmen befinden. Wirklich niedergelassen haben sich nur wenige in der Stadt an der Rhône. Und so ist Lyon geblieben, was es war. Eine große, erstaunlich stille Stadt. Eine Stadt mit Vierteln, in denen man mittags lange suchen muss, bis man ein kleines Restaurant findet, das seine Tische auf den Gehsteig gestellt hat und dort einen Salat serviert. Eine Stadt aber auch, die – hat man so ein Restaurant gefunden – einen wieder überrascht, weil es erstens noch freie Plätze gibt, weil zweitens der Kellner so freundlich und  weil drittens der Salat nicht nur gut, sondern auch gar nicht teuer ist. Ich saß da und dachte: Das alles wäre dir in Paris nicht passiert. Und dann hörte ich, wie am Nebentisch eine Dame einen Mann, der offenbar aus Paris gekommen war, fragte: „Et alors, elle va comment la capitale?“ Wie geht’s der Hauptstadt? Und er antwortete: „Elle crève sous la foule.“ Sie verreckt unter der Menschenmenge. Und jedem in der Runde musste klar sein, was er damit meinte und doch hatte sicher auch jeder in der Runde die sich leicht überschlagende Stimme der Dame wahrgenommen, die eben verriet, dass sie jetzt nirgendwo lieber wäre als in Paris. Das ist das Problem von Lyon. Einfach Lyon und nicht Paris zu sein. Es hat immer noch keine Ahnung davon, dass das ein großes Glück ist.

 

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