Aus Frankreich erreichen uns mal wieder kuriose Bilder: Seit Wochen wird im Land fröhlich gestreikt, keine Bahn fährt mehr pünktlich, keine Tankstelle wird mit Benzin versorgt, kein Müll mehr abgeholt. Nur eines ist ein bisschen anders als sonst. Denn in diesem Jahr haben auch die Schüler und die Studenten beschlossen, sich an den Protesten zu beteiligen. Sie fürchten, dass durch die geplante Anhebung des Rentenalters von sechzig auf zweiundsechzig Jahre künftig noch weniger Jobs frei sein werden, wenn sie in ein paar Jahren mit ihren Diplomen auf den Arbeitsmarkt drängen. Dabei haben viele von ihnen, genauer gesagt, all jene, die es nicht auf eine Grande Ecole, auf eine der Elitehochschulen geschafft haben, schon heute nicht leicht. Erst im vergangenen Jahr hat die Regierung von Präsident Sarkozy beschlossen, im öffentlichen Dienst nur noch jede zweite aller frei werdenden Stellen neu zu besetzen. Gerade diese Posten sind unter jungen Leuten allerdings besonders beliebt, weil sie Sicherheit versprechen. Zudem liegt die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren bei nahezu fünfundzwanzig Prozent.
Besonders betroffen sind gleichwohl keineswegs diejenigen, die nun auf die Straße gegangen sind. Noch viel schwieriger ist es für all jene, die während der Herbstunruhen vor fünf Jahren gewaltsam auf sich aufmerksam machten. Die Arbeitslosigkeit unter den Bewohnern der französischen Banlieues liegt sogar bei etwa vierzig Prozent und trotz immer wiederkehrender Beteuerungen ist bislang wenig geschehen, das daran etwas ändern könnte. Allerdings gibt es kleine, beinahe private Küchentischprojekte, die so interessant sind, dass es lohnt, von ihnen zu erzählen.
Vor kurzem bin ich in Paris Saïd Hammouche begegnet. Saïd Hammouche wurde als Kind marokkanischer Einwanderer in Frankreich geboren. Er ist achtunddreißig Jahre alt und im Nordosten von Paris im Département Seine-Saint Denis aufgewachsen, wo er immer noch lebt. Sein Vater war Arbeiter, seine Mutter kümmerte sich um den Haushalt und sprach kaum Französisch. Hammouche hat in der Banlieue sein Abitur gemacht und danach einen Master in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Damit hat er einen sicher nicht unkomfortablen Posten als Beamter im französischen Bildungsministerium bekommen, er hat fünf Jahre dort gearbeitet und dann entschieden, das sichere Schiff zu verlassen.
Er wollte etwas anderes. Im Januar 2008 hat er „Mozaik RH“ gegründet, einen Verein, der Jugendlichen aus sozial schwachen Familien hilft, eine Arbeitsstelle zu finden. Oft, wenn auch nicht immer, stammen diese Jugendlichen aus der Banlieue, haben einen Migrationshintergrund und daher auf dem französischen Arbeitsmarkt schlechtere Chancen als ihre Mitbewerber. Hammouche will zwar nicht generell von einer ungleichen Chancenverteilung sprechen. Aber er sagt, es gebe in Frankreiche eine „Ungleichheit auf der Orientierungsebene“. Als er selbst sich beispielsweise auf sein Abitur vorbereitet habe, habe er gar nicht gewusst, was eine Wirtschaftshochschule ist, denn bis nach Seine-Saint Denis waren derlei Informationen nicht gedrungen.
Er hat es sich deswegen zur Aufgabe gemacht, Informationen zu verteilen und zwar in zweierlei Richtung: An interessierte Studenten, die nicht wissen, wo und wie sie sich bewerben sollen, wie sie sich am besten präsentieren, wie sie ein Vorstellungsgespräch überstehen. Und an potentielle Arbeitgeber, die zwar nach neuen Kräften suchen, aber nicht immer frei von Vorurteilen sind, wenn die Bewerber etwa aus Départements mit den Kennzahl 93 (für Seine-Saint Denis) oder 92 (Hauts-de-Seine) stammen. Insofern ist Hammouches Verein eine Art Scharnier zwischen französischen Welten, die sonst nur schwer miteinander in Kontakt kommen. Was Hammouche, der sich mit mittlerweile zwölf Mitarbeitern ein paar Räume in einer Bürogemeinschaft am Canal Saint-Martin gemietet hat, den Studenten anbietet, sind zwar zunächst meist nur befristete Praktikumsplätze. Aber es sei durchaus schon vorgekommen, dass sich aus dieser Zusammenarbeit ein längerfristiges Arrangement ergab: Zwischen einhundertfünfzig und zweihundert Leute habe er auf diese Weise vermittelt, sagt Hammouche. Er selbst stellt diesen Vermittlungsdienst den Unternehmen in Rechnung.
Das alles ist natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Und es ist auch kein Ruhmesblatt für eine Republik, die sich den Grundsatz der Gleichheit auf die Fahnen geschrieben hat, dass es im Alltag eines eigenen, noch dazu privaten Vermittlers bedarf, der die potentiellen Arbeitgeber und Arbeitnehmer überhaupt erst miteinander in Kontakt bringt. Aber so ist es eben, und Saïd Hammouche ist darüber keinesfalls verbittert. „Die Franzosen“, sagt er, „sind keine Rassisten“. Sie müssten anfangen, einander zu begegnen, und aufhören, nur übereinander zu reden. Als Frankreich sich beispielsweise im vergangenen Frühjahr fragte, was das denn eigentlich sei, die französische Identität, da ging es Saïd Hammouche nicht so gut. Er war unglücklich mit dieser Diskussion, weil er grundsätzlich der Ansicht war, die Frage sei falsch gestellt: „Wer nach der Identität fragt, tut so, als wäre sie in Gefahr und sät Argwohn.“ Er hat es jedenfalls als hart empfunden, dass ständig von den Unterschieden zwischen den Franzosen unterschiedlicher Herkunft die Rede war. Und er glaubt: „Das macht Frankreich zerbrechlich.“ Es könnte sein, dass er Recht hat. Derzeit sieht es ja wieder mal ein bisschen danach aus.