Republik der Intellektuellen

Die streitbare Dirne auf dem Ehrenfriedhof der Repbublik

 

 

 

Genf feiert den 500. Geburtstag des sittenstrengen Reformators Calvin. Auf dem Friedhof hat er Reformator eine neue Nachbarin: eine Prostituierte.

 

Vor 500 Jahren wurde Johannes Calvin geboren. In Genf, wo der sittenstrenge Reformator sein sittenstrenges Regime einer ziemlich totalitären Tyrannei der Tugend durchgesetzt hatte, wird in diesem Jahr sein Geburtstag zusammen mit jenem der Gründung der Universität vor 450 Jahren durch ihn groß gefeiert. Doch das Calvin-Jahr beginnt mit einem Skandal: Der Grünen-Politiker Patrice Mugny hat durchgesetzt, dass Calvin, der die Prostitution bekämpfte, auf dem Ehrenfriedhof der Republik eine neue Nachbarin bekommt. Eine streitbare Dirne, Grisélidis Réal. Sie ist vor wenigen Jahren gestorben. Damals war ihre Beisetzung ein gesellschaftliches Ereignis, dem viele Kulturschaffende und Intellektuelle beiwohnten. Jetzt wurden ihre sterblichen Überreste in den „Cimetière des Rois“ der prominenten Politiker und verdienstvollen Persönlichkeiten der Geschichte überführt.

Seit Wochen wird in Genf heftig gestritten. Ein Skandal?  Eine Provokation? Eine späte Rehabilitation? Eine Frechheit allen tugendhaften Frauen gegenüber? Ein Ausdruck schlechten Gewissens? Ende der Doppelmoral und Scheinheiligkeit? Der Ehrenfriedhof der Republik ist gewissermaßen das Genfer Pantheon. Ein ganz besonderer und äußerst idyllischer Ort der Ruhe inmitten der Stadt. Frauen gibt es hier nur wenige, und meistens sind es die Gattinnen berühmter Männer. Der Plan des grünen Politikers hat vor allem das weibliche Geschlecht empört. Zahlreiche Politikerinnen und Prostituierte bekämpften das Vorhaben. Die Prostituierten, für deren Würde Grisélidis Réal gekämpft hatte, rügten in der Boulevardzeitung, sie sei keine gute Kollegin gewesen. In einem ihrer Bücher habe sie die Vorlieben und Macken ihrer Kunden ausgebreitet. Eine ehemalige Bundesrichterin und die erste Parlamentspräsidentin gingen auf die Barrikaden – beide sind Sozialistinnen.

Jetzt war es soweit – und auch das Fernsehen kam. Die Überführung hat stattgefunden. Gut zweihundert Besucher trafen sich auf dem Friedhof. Der erste Verleger von Grisélidis Reals Buch war da, Bertil Galland. Ihre Freunde und Mitstreiterinnen. Eine Prostituierte aus Belgien. Schriftsteller und Intellektuelle. Auch ein paar Gegnerinnen. Zu Lebzeiten hatte Grisélidis Réal den Wunsch geäußert, hier begraben zu werden. „Wir tun dies nicht, um ein Hohelied auf die Prostitution anzustimmen“, erklärte Mugny: „Sondern um den Kampf einer Frau für die Würde der Dirnen zu anerkennen.“

Reicht das? Warum nicht. Grisélidis Réal hat ihren Beruf stets als soziale Mission verstanden. Aber auch weitergehende Ambitionen verfolgt. „Schriftstellerin-Malerin-Prostituierte“ steht auf dem Grabstein. Ihr erstes Buch, das vor dreißig Jahren erschien, wurde erst 2008 ins Deutsche übersetzt – es erschien bei Piper: „Erinnerungen einer Negerhure“ – weite Kapitel spielen in Deutschland. Ein ungutes Gefühl kann auch die Tatsache erwecken, dass sehr viel bedeutendere Schriftstellerinnen und Malerinnen Genfs nicht auf dem Ehrenfriedhof der Republik beigesetzt wurden. Sonia Vorstappen – „sie hat mich von meinen Schamgefühlen befreit“ – sagte: „Wie Jesus, der zu Maria Magdalena ging, kommt Grisélidis zu Calvin ins Paradies.“

Diese Nähe ist sicher eine schöne Pointe. Noch näher ist das Grab allerdings bei jenem von Jorge Luis Borges. Ob er hier bleibt, steht nicht wirklich fest. Nicht weil ihn die neue Nachbarschaft stören würde – Argentinien will seine sterblichen Überreste nach Hause holen.

 

 

 

 

 

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