Ich an der Grenze

Ich an der Grenze

Grenzerfahrungen, aber auch grenzwertige Erlebnisse - mit Mountainbike, Rennvelo oder Dreirad

Der Charme des Harz

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Es ist der 23. Juni, ich bin den siebten Tag unterwegs. Heute will ich von Braunlage bis Duderstadt kommen. Beide Orte liegen abseits des Tracks, ich muss also...

Es ist der 23. Juni, ich bin den siebten Tag unterwegs. Heute will ich von Braunlage bis Duderstadt kommen. Beide Orte liegen abseits des Tracks, ich muss also heute Morgen zurück auf die Strecke und heute Abend wieder abbiegen, um mir Quartier und Abendessen zu suchen.

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Roaarrr, um sechs Uhr röhrt im Sekundenabstand eine Motorrad-Kolonne auf der B27 unter dem Fenster meines Zimmers aus Braunlage hinaus. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich von einem planschenden Tiger bewacht sehr gut geschlafen.

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Simone Oehlmann, die Wirtin der Pension Mona Lisa, ist Malerin, spezialisiert auf Wandgemälde. Alle Zimmer des Hauses sind verschieden ausgemalt, die Flure hängen dicht bei dicht gehängt voll Bilder. Beim Frühstück fällt mein Blick an der Zimmerdecke auf einen lebensgroßen barbusigen Engel, Körbchengröße 75B.

Sie kommen jetzt in die Wellen, und so bleibt es bis zum Schluss, hat mir Gunnar Fehlau gesimst. Das habe ich schon auf der Karte gesehen. Aber das abwechselnde Klettern und wieder Hinunterrollen schlägt mir weniger aufs Gemüt und auf die Knochen als so ein stundenlanger Aufstieg wie gestern. Am ersten und zweiten Tag wiesen ja mehrmals Schilder nach Mölln, wo Till Eulenspiegel herstammt. Von ihm heißt es, er habe sich bergauf wandernd immer gefreut und bergab gejammert – jeweils vorgreifend: wo es hinaufgeht, kommt auch irgendwann wieder Gefälle und umgekehrt. Ich komme mit den Wellen ganz gut zurecht. In Hohegeiß gönne ich mir ein Malzbier, genieße mit unverhohlenem Stolz den Blick zurück auf den Brocken: Da oben bist du gewesen, erst gestern, sagenhaft. Der Brocken ist nicht der höchste Berg, auf dem ich mit dem Fahrrad stand, aber der Anstieg war sicher der schwerste in meinem ganzen Leben.

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Und dann bekomme ich in Hohegeiß einen ziemlichen Schreck: Ich habe nicht genau genug aufs GPS geschaut (d.h. den Kartenmaßstab verstellt) und bilde mir einige Minuten lang ein, es gehe nun ein Stück die B4 entlang. In dieser kurzen Zeit  entgehe ich etwa ein halbes Dutzend Mal nur knapp der Gefahr, von einem Pulk Motorradfahrer niedergewalzt zu werden. Nach weniger als fünfhundert Meter ist mein Abweichen von der Route klar zu erkennen, ich kehre um, biege auf die GST-Route ein, und schlagartig ist wieder völlige Ruhe um mich herum.

Die ganze Gegend ist stark vom Harz-Tourismus geprägt: Souvenirläden voller Hexchen und Gnome, geschnitzt und gegipst, scheußlich kitschige Staubfänger mit warziger Nase. An der Bude, wo ich mein Nährbier zische, besteht die Dekoration aus lauter Warnschildern der alten Grenze. Und wo man unterwegs auf dem Grenzweg auf Reste von Grenzanlagen stößt, da sind sie regelrecht ausgeweidet: die einsam neben dem Kolonnenweg stehende Rückwand eines Schaltkasten-Trägers etwa, an dem alle Nachrichtentechnik der Grenztruppen bis auf zwei Reihen korrodierter Kontaktleisten abgeschraubt worden ist. Aber selbst so ein kümmerlicher Rest zeugt noch von dem unverhältnismäßigen Riesenaufwand, der mit dieser Grenze getrieben worden ist.

Der Harz ist so etwas von für Wanderer aller Art erschlossen, dass man nur staunen kann über die vielen Wegweiser im Gelände. Die GST-Strecke folgt hier streckenweise dem  Harz-Grenzweg: Walkenrieder Straße steht auf dem Schild – und wie sieht die „Straße“ aus? Ein gut durch-, be- und zugewachsener Plattenweg.

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In Walkenried mache ich einen absichtlichen Schlenker in den Ort hinein, aus zwei Gründen: erstens steht der Himmel pechschwarz drohend über mir und zweitens möchte ich einen Blick auf die Ruine des Zisterzienser-Klosters werfen.

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Eine Lage, wie sie für diesen Orden nicht typischer sein könnte: ein Waldtal, zierlich und traurig zugleich ragen die gotischen Reste der Kirche in starkem Kontrast zu den flachen Fachwerkhäusern rings herum in die Höhe. Den kurz darauf heftig einsetzenden Regenguß wettere ich bei einer vorzüglichen Bockwurst vom Landschlachter unter einem Vordach ab. Dann kommt die Sonne wieder heraus, und es geht weiter mit dem Rauf und Runter durchs nunmehr gründlich eingeweichte Land.

Den ganzen Nachmittag lang sieht es so aus, als könne es gleich wieder regnen, aber es hält, die Schauer regnen in geringer Entfernung ab. Auf der Höhe von Fuhrbach meine ich ein Gewitter zu hören. Aber Donner ist nicht so rhythmisch, und ein Gewitter arbeitet auch nicht mit Echogerät, da muss ein Fest mit Musik sein, die kilometerweit tönt. Der Regen erwischt mich erst wieder, als ich in Duderstadt bin und unter ein Vordach flüchten kann. Ich war erst skeptisch, als mir ein junger Mann an der Tankstelle die Bierstube ¨Zum halben Mond¨ an einer Altstadtecke empfiehlt. Aber ich bekomme dort ein Appartement aus einem Wohn- und einem Schlafzimmer, mein Fahrrad hat ein Dach über sich und das Essen am Abend schmeckt auch.    

(Fotos: py)


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