Ich an der Grenze

Ich an der Grenze

Grenzerfahrungen, aber auch grenzwertige Erlebnisse - mit Mountainbike, Rennvelo oder Dreirad

Kurz vor dem Aufgeben

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Es ist der 25. Juni, der elfte Tag, dass ich mehr oder weniger allein unterwegs bin, der zehnte auf der GST-Strecke, und nach nicht ganz 650 Kilometer ist knapp...

Es ist der 25. Juni, der elfte Tag, dass ich mehr oder weniger allein unterwegs bin, der zehnte auf der GST-Strecke, und nach nicht ganz 650 Kilometer ist knapp die Hälfte der Grenzsteintrophy geschafft. So ungefähr bin ich damit tatsächlich noch im Plan, diese Tour in zwanzig Tagen zu machen. Geschafft bin heute Abend aber vor allem ich selbst: Angezählt, ohne dass besonders harte Schläge auf mich niedergeprasselt sind. Bis auf einen schweren Guss waren die Schauer  sanft und warm.

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Aber die Anstrengung ist einfach größer, als ich vermutet habe. An mir nagen das schlechte Wetter und das, was es aus der Strecke macht, die auch ohne Regen und Böen nicht ohne wäre. Morgen früh muss ich einige Kilometer zurück und rauf auf die Teufelskanzel. Ich werde wieder schieben müssen, das sagt mir schon das Kartenbild. Heute Abend ist ein Abend zum Aufgeben.

Was die Ausrüstung angeht, ist alles im grünen Bereich: Das Rad ist genau das richtige für diese Tour, heute habe ich auf den Gefällstrecken wieder die Bremsen schätzen gelernt, ihre Dosierbarkeit und ihre Standfestigkeit. Aber Abfahrten, das ist auf dieser Gelände-Strecke etwas völlig anders als auf der Straße mit dem Rennrad, wo man das Rad einfach laufen lässt und die Kurven anbremst. Abfahrten im Wald,  die wie heute Morgen in einem Straßengraben enden können, sind genauso anstrengend wie die  Aufstiege. Volle Konzentration, immer im Rollen bleiben, damit das Rad nicht einfach weiterrutscht – man kann nicht einmal stehen bleiben und verschnaufen und die ganze Zeit muss das Rad festgehalten werden.    

Auf der Höhe, die wie die Ortschaften ringsherum Hohes Kreuz heißt, dann der Regen. Erst ein Schauer, dann ein Wolkenbruch. Die schlauste Entscheidung des Tages war, mich vom Track weg die Straße nach Streitholz hinunterrollen zu lassen, kurz bevor diese 20 Minuten Starkregen einsetzten. So hockte ich in einem Bushäuschen und sah zu wie die Kanalisation überlief. Den ganzen Tag lang, achteinhalb Stunden brutto, hat mich die Frage beschäftigt, ob ich es bis zum nächsten Schauer

a. in einen Ort mit Bushäuschen
b. wenigstens unter eine große Eiche oder
c. unter irgendeinen anderen Regenschutz schaffe. 

Ich habe die Augen mehr am Himmel, als auf der GPS-Anzeige. Nach dem Regen sind die sandigen Wege aufgeweicht und voller riesiger Pfützen. Ich bin wieder sehr dankbar für die Schutzbleche des Rades.

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Sankt Johann, geht voran unserm Herrn,
taufet auch uns Sünder gern.

Das höre ich, als mal wieder die Sonne so schön scheint, als habe es gar keinen Regen gegeben, eine Frau zu ihrem Nachbarn sagen. Gestern, am Sonntag, den 24. Juni hat die Kirche die Geburt von Johannes dem Täufer gefeiert. Ich war am Morgen so unlustig weiter zu fahren, dass ich noch in Duderstadt blieb und Schreibschulden abarbeitete. Abends ging ich in die späte Messe in St. Cyriakus, dem (innen) spätgotischen Dom des Eichsfelds. Der Priester predigt davon, dass wir mutige Bauarbeiter Gottes sein sollen wie der Täufer, keine Miesmacher und Schwarzseher. Zur Verdeutlichung seiner Worte hat er am Ambo einen knallgelben Bauarbeiter-Helm liegen, den er während der Predigt immer wieder auf und absetzt und schließlich vor den Altar legt. Die Zelebration ist sehr nüchtern, der Sprachstil modern und damit eher unfeierlich. Christus vergießt sein Blut für alle, nicht für viele. Der Anhang zum Hildesheimer Gotteslob, die ¨Lieder für das Untereichsfeld¨ sind hinten aus dem Gesangbuch herausgerissen – wie überall. Nach dem Gottesdienst werden draußen Fahrzeuge gesegnet, Weihwasser mischt sich mit Regentropfen. Da das Gebet des Priesters ausdrücklich die daheim stehenden Fahrzeuge einschloß, wird wohl auch mein Fahrrad etwas Segen im Hof des Hotels abbekommen haben.

Ich habe nichts zu lesen dabei, fällt mir erst an diesem Sonntag auf, wo ich mich in dem Wohnzimmer meines Appartements plötzlich einer 43bändigen Bibliothek gegenüber sehe. Ich kann nicht widerstehen: ¨Sein unerwartetes Lächeln war beglückend. Lächerlich! Wie hatte ich, die sonst so vernünftige und stolze Judith Osmond, in eine derart alberne und aussichtslose Verliebtheit verfallen können?¨ Das stammt aus Victoria Holt, Die Rache der Pharaonen, und Johanna Lindsey  kommt in Werken wie ¨Gefangene der Leidenschaft¨richtig zur Sache. Ich bin professionell beeindruckt: So sollte man schreiben können.

Heute gegen Abend dann der Hammer: Der Klausenhof, wo ich übernachten wollte, hat heute und morgen geschlossen. Soll ich zurückfahren nach Hohengandern, nein, ich entschließe mich auf der Straße nach Gerbershausen zu fahren, frage mich durch und bekomme in dem wie ausgestorbenen Ort ein Zimmer bei Familie Merker. Hier ist der letzte Abend der Kirmes, und ich bekomme ¨im Saal¨, wohl des Dorfgemeinschaftshauses in einem breughelschen Ambiente ein Abendessen mit Musik: bierselige Schunkler zu Schaschlik mit Pommes. Meine Wirtsleute sind rührend um mich besorgt, und allmählich wird meine Laune wieder ein bisschen besser.

Ganz ganz seltsam: Gerbershausen liegt für mein Smartphone in einem totalen Funkloch.
Abgeschnitten von allem: von der Landkarte, von den Mails, vom Blog – kurz wirklich allein, abgeschnitten von der virtuellen Heimat. – Ab ins Bett.


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