Die Debatte um die von türkischen Intellektuellen lancierte Internetpetition, in der türkische Bürger Armenier für die „große Katastrophe von 1915″ um Verzeihung bitten können, nimmt immer unschönere Züge an. Unterzeichner werden als Verräter beschimpft. Es gebe kein demokratisches Benehmen in der Türkei, schreibt der Kolumnist Hüseyin Gülerce in der Zeitung „Today‘s Zaman“ und zeigt sich sehr enttäuscht über den Ton, in dem die Debatte geführt wird: „Die meisten von uns sind nur Demokraten, wenn es sie selbst betrifft. Wir dulden keinen Widerspruch und keine Meinung, die nicht zu unseren eigenen Ideen passt. Wir wissen nicht einmal, wie man eine ordentliche Diskussion führt“, schreibt er.
Ministerpräsident Tayyip Erdogan hatte die Aktion scharf kritisiert. „Ich stimme dieser Kampagne nicht zu, ich unterstütze sie nicht, und ich will damit nichts zu tun haben“, sagte Erdogan. „Offensichtlich haben die Unterzeichner einen Genozid begangen, deshalb bitten sie um Verzeihung. Die türkische Republik hingegen hat so ein Problem nicht“, so der Ministerpräsident. Es falle ihm schwer, das Handeln der Initiatoren und Unterzeichner nachzuvollziehen: „Um Verzeihung bitten Individuen. Wenn ein Verbrechen geschieht, dann bittet diejenige Person um Verzeihung, die das Verbrechen begangen hat. Alles andere ist unlogisch““ sagte Erdogan. Außer Unruhe und Ärger bringe die Kampagne dem Land nichts.
Staatspräsident Abdullah Gül machte hingegen deutlich, dass er in der Initiative der Intellektuellen eine demokratische Herausforderung sieht. Die Armenier-Petition und die von ehemaligen Diplomaten abgegebene Gegenerklärung, die an die von Armeniern getöteten Botschafter erinnert und mahnt, dass die Armenier sich dafür entschuldigen sollten, zeuge von einer lebendigen Diskussionskultur in der türkischen Gesellschaft. „Die Türkei ist ein Land, in dem jeder seine Meinung sagen kann“, sagte Gül. Eine Abgeordnete der Partei CHP, Canan Artiman, meinte daraufhin, Abdullah Gül sollte der Präsident der gesamten türkischen Nations sein, und nicht nur der seiner eigenen ethnischen Gruppe. „Überprüfen Sie doch einmal die ethnischen Wurzeln seiner Mutter und sie werden schon sehen“, sagte sie . Canan Artiman spielt auf Gerüchte an, dass die Familie von Staatspräsident Gül armenische Wurzeln haben soll.
Auch der türkische Generalstab hat sich inzwischen zu Wort gemeldet. Die Petition sei falsch und schädlich, sagte Metin Gürak, der Sprecher der Militärführung, in Ankara. Das türkische Außenministerium teilte derweil mit, dass es – anders als von türkischen Journalisten vermutet – nichts mit der Erklärung der ehemaligen Diplomaten zu tun habe. „Wir haben nicht das Recht, gegen die Petition vorzugehen“, sagte Burak Özügergin, der Sprecher des Außenministeriums. Beide Initiativen seien privater Natur, die Haltung des Außenministeriums zu den Ereignissen von 1915 sei bekannt.
Der Direktor der „Armenian Assembly of America“, Bryan Ardouny hat die Internetkampagne als Beginn eines unaufhaltsamen Prozesses bezeichnet. „Über 12 000 Menschen in der Türkei wollen, dass die Geschichte wahrheitsgemäß erzählt wird. Die öffentliche Entschuldigung ist ein erster Schritt in diese Richtung.“
Die Internetseite „Wir bitten um Verzeihung“ ist inzwischen von mehr als dreizehntausend Menschen unterzeichnet worden. Zwei ebenfalls zu Beginn der Woche gestartete Gegenkampagnen mit den Titeln „Ich erwarte eine Entschuldigung“ und „Ich entschuldige mich nicht“, initiiert von einer Gruppe, die sich „Die wirklichen türkischen Intellektuellen“ nennt, haben ebenfalls mehrere Tausend Unterschriften gesammelt.
Ob man noch lange die Gelegenheit haben wird, die Armenier im Internet um Verzeihung für ihr im Jahr 1915 erlittenes Leid zu bitten, ist fraglich. Ein Arbeiter aus der westtürkischen Stadt Marmaris hat Klage wegen Volksverhetzung gegen die Initiatoren der Kampagne eingereicht und gefordert, die Internetseite sperren zu lassen. Eine ähnliche Anzeige hatte im vergangenen Jahr dazu geführt, dass das Videoportal Youtube.com in der Türkei gerichtlich gesperrt wurde. Auslöser für die Anzeige damals waren Filme, die Staatsgründer Atatürk nach Ansicht der Kläger auf despektierliche Weise zeigten. Sollte sich die Staatsanwaltschaft der Forderung der jetzt eingereichten Klage anschließen, dann kann nach türkischem Recht ein Richter binnen vierundzwanzig Stunden und ohne Anhörung der Betreiber der Website die Sperrung der Seite verfügen.