Einen tristeren Ort als Mus kann es kaum geben. Darin waren sich die aus Istanbul, Antalya und Ankara angereisten Journalisten und finanzstarken Society-Damen einig. Tatsächlich war kaum einer von ihnen jemals zuvor so weit im Osten der Türkei gewesen: Mus liegt in der Nähe des Vansees, bis zur iranischen Grenze sind es nur wenige hundert Kilometer. Von Istanbul aus müssen 1312 Kilometer zurückgelegt werden, um die Stadt zu erreichen. Gefühlt jedoch ist Mus von der Glamourwelt am Bosporus weiter entfernt als der Mond.
Früher einmal lebten viele Armenier in Mus. Heute sind es vor allem Kurden, die Stadt zählt 120 000 Einwohner. Bis vor wenigen Jahren tobte in den Bergen rund um die Stadt der Krieg zwischen dem türkischen Militär und der PKK. Ansonsten ist die Stadt vielen Türken wegen der hohen Anzahl an geistig behinderten Menschen ein Begriff – denn hier heiraten die Menschen oft noch innerhalb der Familie.
„Ob es hier denn ein Kino gebe?“ fragte eine Journalistin, als unser Bus heruntergekommene Wohnhäuser und dann den Hauptplatz, einen Kreisverkehr mit Teehaus, passierte. „Ja, aber da laufen nur alte Filme.“ „Und was machen die Jugendlichen dann hier?“ „Sie sitzen im Teehaus oder im Internetcafé, es gibt hier mehrere Dutzend. Arbeit dagegen gibt es nicht“, erklärte unser Früher. „Die Familien haben hier zehn bis fünfzehn Kinder, auch wenn unser Ministerpräsident sagt, dass es nur drei bis fünf sind.“ Dann war das Ziel unserer Reise erreicht: Eine Schule am Rande der Stadt, in der vor wenigen Tagen achtzig neue Schülerinnen eingeschult worden sind.
Nach deutschen Maßstäben ist das ja nun nichts, was eine besondere mediale Aufmerksamkeit und einen Festakt in Anwesenheit des Gouverneurs von Mus verdienen würde. In der Türkei, besonders in ihrem Osten, hingegen schon. Nach offiziellen türkischen Angaben gibt es im Land sechshunderttausend Mädchen im schulfähigem Alter, die nicht zur Schule gehen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Oft leben die Kinder in abgelegenen Dörfern, von denen aus eine funktionierende Schule nur mit dem Schulbus erreicht werden kann. Schulbusse aber gibt es fast nicht, und wenn sie es gibt, dann haben viele Eltern Angst, die Mädchen müssten auf der stundenlangen Fahrt vielleicht neben einem Jungen sitzen, was ihr Ansehen beschädigen könnte. Um einen Platz im Schulwohnheim zu bezahlen, reicht oft nicht das Geld. Genauso wenig reicht es für Hefte, Bücher und Stifte. Außerdem sehen viele Eltern grundsätzlich nicht ein, warum ein Mädchen ihre Zeit in der Schule vergeuden sollte, wenn sie doch ohnehin Ehefrau und Mutter wird. Oft werden die Mädchen schon mit vierzehn oder fünfzehn Jahren verheiratet, da die Eltern das Brautgeld, das die Familie des Bräutigams an sie zahlt, zum Überleben brauchen. Noch unwahrscheinlicher wird der Schulbesuch, wenn sich die Familie entscheidet, ihr Glück in einer Stadt wie Istanbul oder Ankara zu versuchen. Denn dort ist das Leben so teuer, dass die ganze Familie mitarbeiten muss und am Ende nicht einmal mehr die Söhne zur Schule gehen können.
Eigentlich sollte der türkische Staat dafür sorgen, dass sich all das ändert und dass es auch in den entlegenen Regionen des Landes funktionierende Schulen gibt. Gern wird in diesem Zusammenhang an die Ideale von Staatsgründer Kemal Atatürk erinnert, dem die schulische Ausbildung der Jugend besonders am Herzen lag. Dennoch soll es inzwischen mehr Moscheen als Schulen im Land geben. Also nehmen Wirtschafts-, Medienunternehmen und Vereine, die sich den Idealen Atatürks verschrieben haben, die Sache in die Hand. Sie vergeben Stipendien und machen etwas, das vielleicht sogar noch wichtiger als finanzielle Unterstützung ist: Sie gehen in die Dörfer, besuchen die Familien und überzeugen sie davon, wie wichtig der Schulbesuch für ihre Kinder ist. Den Vereinen schenkt ihr Engagement die Hoffnung, dass sich das Land mit ihrer Hilfe in die richtige Richtung bewegt. Den Unternehmen bringt es soziales Ansehen und einen erhöhten Bekanntheitsgrad. Die Einschulung der achtzig Mädchen von Mus hat das Unternehmen Metro Group ermöglicht.
Auf dem Schulhof fotografierten die Journalisten und Society-Damen sich erst gegenseitig und dann die Schülerinnen: Aufgereiht in Zweierreihen standen sie da, achtzig kleine Mädchen im Alter zwischen neun und zwölf Jahren, gekleidet in adretter Schuluniform; der Faltenrock grau, die Strickjacke blau, die Bluse weiß. Aus was für ärmlichen Verhältnissen sie tatsächlich stammten, verrieten nur die Schuhe: Alt, kaputt, zu klein, aus Plastik. Ihre Eltern wohnten in einem Dorf, anderthalb Autostunden von Mus entfernt, erklärten uns zwei Schülerinnen, die sich als Dilan und Silan Aydemir vorstellten. Dort hätte es zwar auch eine Schule gegeben, doch der Lehrer sei nur ganz selten zum Unterricht erschienen – später erfuhren wir, dass es in den Ortschaften rund um Mus wegen des Terrors über fünfzehn Jahre keinen funktionierenden Unterricht gegeben hat. Ob ihre Eltern denn jetzt stolz seien, dass sie zur Schule gehen? Ja, sagten die Mädchen, doch es hätte gebraucht sie zu überzeugen. Dilan will Ärztin werden, Seyran Krankenschwester. Ob sie diesen Traum verwirklichen können, ist ungewiss. Die finanzielle Unterstützung durch die Metro Group stellt jedenfalls sicher, dass sie in den kommenden Jahren die Schule in Mus besuchen können. Sie sind in einem Schülerinnenwohnheim untergebracht; fünf Mädchen teilen sich dort ein Zimmer. Ihre Eltern und die fünf Geschwister sehen sie nur in den Ferien. In Mus bekommen sie dreimal täglich etwas zu essen – in ihrem Dorf reicht es meistens nur für eine Mahlzeit am Tag.
Als der Gouverneur von Mus endlich kam, nahmen alle in einem der Klassenzimmer Platz. Standen dann wieder auf, da die türkische Nationalhymne gesungen wurde. Jedes der Mädchen bekam einen rosafarbenen Schulrucksack mit Heften, Stiften und Keksen geschenkt. Der Inhalt der gehaltenen Reden war erwartbar. Am Ende sagte der Gouverneur aber etwas, das die Menschen aufhorchen ließ: Es sei ja schön und gut, was die Metro Group hier mache. Noch hilfreicher wäre es aber, wenn das Unternehmen in Mus eine Produktionsstätte eröffnen würde. Das schaffe Arbeitsplätze und Wohlstand. Und mit dem steige ja bekanntlich auch das Bildungsniveau.
Heute wir in der Türkei der Nationalfeiertag gefeiert – erinnert wird an die Ausrufung der türkischen Republik im Jahr 1923. Durch das Fenster ist von allen Seiten Marschmusik und immer wieder die Nationalhymne zu hören. Die Schulen bleiben heute geschlossen, und ausnahmsweise morgen auch. Wegen der Schweinegrippe sollen nämlich alle Schulgebäude im Land desinfiziert werden.
Mein Kompliment für Ihre...
Mein Kompliment für Ihre Berichte, die die Türkei lebendig machen.
Das ist viel, sehr viel meine ich.
Ich bin Schriftsetzer und habe gesetzt, nicht mit einem Finger pro Buchstabe, sondern mit einer Hand pro Buchstabe.
Ich erwähne das, um anzudeuten, dass ich zu jenen gehöre, für die Realismus eine Erfrischung und Weg in die Hoffnung ist.
Man setzt viel im Lauf des Arbeitslebens. Vieles geht harzig davon.
Ihre Texte hätte ich gern gesetzt.