Der Vater und sein Sohn waren festlich gekleidet. Sie streichelten die Kuh, man kann nicht anders als sagen: zärtlich. Es war ein schwarz-weißes Tier mit schönen dunklen Augen. Bevor der Schlachter ihr das Messer an die Unterseite des Halses legte, verharrten die drei für einige Sekunden im Gebet. Dann ging alles ganz schnell: Ein glatter, einziger Schnitt, und die großen Blutgefäße sowie Luft- und Speiseröhre waren durchtrennt. Blut schoss hervor und spritzte auf den Asphalt. Der Sohn, ein kleiner Junge noch, schloss schnell die Augen. Der Schlachter kniete neben der am Boden liegenden Kuh und hielt die durchtrennten Gefäße so, dass ihr Blut nicht zurück in den Körper, sondern auf den Boden floss. Denn nur dann gilt das Fleisch nach islamischen Glauben als rein. Mit der anderen Hand tätschelte er die sterbende Kuh, bis sie aufhörte zu zucken. Ihr auf dem Asphalt ruhender Kopf zeigte nach Osten, nach Mekka, denn so will es das islamische Gesetz.
In dem kleinen Schlachthof im Istanbuler Stadtteil Kasimpasa, an dem an diesem Vormittag mindestens zwanzig weitere Tiere geschächtet wurden, achtete man streng darauf, dass alles nach den religiösen Regeln verlief. Die Kuh wurde in Windeseile gehäutet und zerteilt – ganz still und ohne viel Aufhebens darum zu machen.
Vor gut einer Woche sind an Istanbuler Straßenkreuzungen und Ausfallstraßen große gelbe Plastikzelte errichtet worden, in denen Herden von Schafen, Kühen und Ziegen blökend und muhend auf Käufer warten. Seit Freitag haben die Zelte sich geleert. Statt dessen hängt jetzt in den Straßen der süßliche Geruch von Blut. Es ist „Kurban Bayrami“, Opferfest. Jede Familie, die die finanziellen Mittel dazu hat, opfert an diesem höchsten muslimischen Fest, das vier Tage dauert, ein Tier. Es kann ein Schaf, eine Ziege oder eine Kuh sein – auf jeden Fall dürfen nur Paarhufer geschlachtet werden. Das Fleisch soll in drei Teile aufgeteilt und ein Teil an Nachbarn und Verwandte sowie ein Teil an Arme und Bedürftige verschenkt werden. Den dritten Teil behält die Familie selbst. In den folgenden Tagen werden Verwandte besucht, es gibt neue Kleider und Geschenke für die Kinder.
Das Opferfest symbolisiert für Muslime die Ergebenheit in Gott und die Verantwortung und Aufrichtigkeit ihres Glaubens. Für sie ist es etwa genauso wichtig wie das Weihnachtsfest für Christen. Die Geschäfte haben geschlossen. In den Straßen sind fliegende Händler unterwegs, die Süßigkeiten und Spielzeug verkaufen. Jeder Türke hat eine Erinnerung, die er mit „Kurban Bayrami“ verbindet: Die Großeltern, in deren Garten immer unter dem gleichen Baum geschlachtet wurde; von dem Schmerz, ein dem Tod geweihtes Tier tagelang zu pflegen und zu hegen; aber auch von Streit mit Nachbarn, weil es denen offenbar weniger um das religiöse Ritual als vielmehr um einen Grund zum Schlachten und zum Feiern ging. „Das ist wie in Deutschland“, sagte eine türkische Freundin. „Dort feiern doch auch viele Menschen Weihnachten, ohne dass es ihnen dabei um Religion geht.“
Der Freitag, der erste Tag des Opferfestes, begann für uns frühmorgens, um kurz nach sieben Uhr vor der Fatih Camii, einer der größten Moscheen Istanbuls. Wir wollten in ihr das traditionelle Festgebet erleben. Dass Frauen an diesem Tag der Moschee fern bleiben, da sie an Feiertagen immer bis zum letzten Platz mit Männern gefüllt ist, wussten wir leider nicht. Also lauschten wir auf dem Vorhof einem Teil der mit Lautsprechern übertragenen Predigt. Der Imam erinnerte in ihr an den Hintergrund des Festes (Koran, Sure 37, 99-113), den auch Christen aus der Bibel (Gen. 22, 1-19) kennen: Am „Kurban Bayrami“ wird der schweren Gottesprüfung Ibrahims – in der Bibel ist es Abraham – gedacht. Um seine Ergebenheit zu testen, trug Gott ihm auf, seinen Sohn Ismail – in der Bibel heißt er Isaak – zu opfern. Als Abraham dem Befehl Gottes nachkommen will und laut Koran auch Ismail dem zustimmt, schickt Gott ihm einen Hammel, den er anstelle seines Sohnes opfern soll. Ibrahim und Ismail sollen später die Kaaba in Mekka errichtet haben.
Bis vor wenigen Jahren gab es in der Türkei keine Regeln und Gesetze, wo am „Kurban Bayrami“ geschlachtet wird. Die Menschen schlachteten überall: Auf der Straße, auf dem Balkon, in Garagen. Das ist inzwischen verboten – auch wenn sich nicht jeder an das Gebot hält. Auf dem Spaziergang durch verschiedene Stadtteile sahen wir alles: Das vorschriftsmäßige Schächten durch Metzger auf Plätzen, die speziell von der Stadtverwaltung dafür eingerichtet worden sind; das dilettantische Schächten mit unscharfen Messern und Werkzeug in Hausfluren, in Gärten, in einer mit Holz und Schrott zugestellten Garage. Der Innenhof einer winzigen Moschee im Stadtteil Tarlabasi war an diesem Tag in einen wahren Schlachthof verwandelt worden: In der Mitte beteten Männer, um sie herum saßen arbeitsteilig aufgeteilt Frauen und Männer auf dem Boden. In der einen Ecke wurden die Knochen zerhackt, in der anderen Innereien sortiert, Filetstücke geschnitten, Fleisch gesäubert. Der Müllcontainer vor der Moschee quoll über. Man hatte deshalb einige Kuhmägen und anderen Fleischabfall einfach daneben auf die Straße gelegt. Eine Verheißung für Hunde, Katzen und Ratten.
Überall wünschten uns die Menschen einen schönen Bayram oder schenkten uns Süßigkeiten und luden uns ein, dem Schächtungsritual beizuwohnen. Gleichzeitig wurden wir immer wieder ängstlich gefragt, ob wir schlecht darüber berichten würden – die Menschen sind sich bewusst, dass das Schächten eines Tieres in den Augen vieler Europäer etwas barbarisches ist. Tatsächlich ist es ein Schock, zum ersten Mal ein Tier verbluten zu sehen. Das Bild, das gurgelnde Geräusch, der Geruch des Blutes, bleibt einfach im Kopf hängen. Wer ist schon den Anblick eines verblutenden Tieres gewohnt? Viele Tierschutzorganisationen sind der Meinung, dass ein Tier bei korrekter Schächtung kaum leidet. Doch das tröstet im Moment des Erlebens freilich kaum. Sich vorstellen, wie es etwa auf deutschen Schlachthöfen zugeht, möchte man jedoch auch nicht.
Ob die Türken in Deutschland auch das Opferfest feiern würden, wurden wir gefragt. Wir sagten ja und schüttelten gleichzeitig den Kopf. In Deutschland lebende Türken verzichten mittlerweile häufig auf das Schlachten eines Tieres. Auch weil für die Schächtung eine Sondergenehmigung notwenig ist. Stattdessen schicken sie Geld für ein Opfertier an die Angehörigen in der Türkei, die dann ein Opfertier schlachten. Viele muslimische Organisationen in Deutschland starten zum Fest auch Opfertieraktionen: Man bezahlt etwa hundert Euro, und dafür wird dann zum Beispiel ein Schaf in Afrika geschächtet. Eine reine Geldspende an Arme, so die Meinung der meisten muslimischen Rechtsgelehrten, kann den religiösen Charakter des Opferfestes nicht ausgleichen.