Seinen Namen hat Allaa abgelegt, als er nach Deutschland gekommen ist. Weil die Deutschen ihn meistens falsch aussprechen. „Sie sagen immer ,Allah‘, aber der Name gehört schon Gott“, sagt er. Um Gott nicht den Namen wegzunehmen, wählte er einen Vornamen, den alle gut aussprechen können. Seit einem Jahr heißt Allaa für alle Baher.
Der Achtzehnjährige ist kein Flüchtling, und er ist es doch. Seine Geschichte ist beispielhaft dafür, wie unterschiedlich die Menschen sind, die zu Tausenden nach Europa kommen, um ein neues Leben zu beginnen, von dem sie vorher oft nichts wissen. Seit Monaten ist die Rede von „den Flüchtlingen“, doch die meisten haben nicht mehr gemeinsam als ihre Not und den Verfall ihrer Heimatländer.

Als Baher mit seiner Mutter ins Auto stieg und von Damaskus über die libanesische Grenze fuhr, waren sie nicht auf der Flucht vor dem vor den Toren der Großstadt tobenden Gefechten der islamistischen Milizen. Sie verließen Syrien, weil Bahers Mutter krank war. Ein Arzt hatte ihr geraten, eine Niere entfernen zu lassen, das Organ dann aber verkauft, wie Baher sicher zu wissen meint.
Als sich der Zustand der Mutter verschlechterte, drängte die Familie zur Behandlung in Europa. Freunde der Eltern boten ihre Hilfe an und machten Hoffnung auf eine gute medizinische Versorgung in Wien. „Da ging unsere Reise los“, sagt Baher, krempelt einen Ärmel seines Jacketts hoch und zeigt stolz seinen rechten Unterarm, auf den er sich zwei Wörter in großen, geschwungenen Lettern hat tätowieren lassen: „Lena“, den Namen seiner Mutter; und „Syria“, den Namen seiner Heimat.
Nachdem er gemeinsam mit seiner Mutter seine Heimat verlassen hatte, flogen sie in die Türkei. Um nach Europa zu gelangen, zahlten sie viel Geld und stiegen zusammen mit vielen anderen in ein Boot. Nur fünf der Passagiere haben es bis zum anderen Ufer geschafft, sagt Baher, die meisten seien im Meer ertrunken, als das Boot sank. Bahers Mutter und er selbst hätten das Land nur erreicht, weil seine Kräfte genügten, um die Mutter auf den Rücken zu nehmen und sie beide an Land zu schwimmen. Spätestens seit diesem Tag fürchte er sich vor nichts mehr, sagt Baher. Er fährt sich durch die akkurat rasierten Haare und zeigt mit den Zeigefingern gen Himmel: „Wenn Gott sagt, heute ist dein letzter Tag, dann ist das so. Ich lebe nur einmal und sterbe nur einmal, warum soll ich Angst haben?“ Die Wahl seines neues Namens ist kein Zufall, er bedeutet auf Arabisch „das Meer“.

Baher spricht viel von Damaskus, er nennt sie „seine Stadt“. Er liebte die Menschen, die Lichter, die Farben, das bunte Leben in jedem Winkel. Und immer wieder betont er, dass er kein Dörfler ist, sondern Großstädter durch und durch. Dass viele Deutsche sich unter Syrien Zeltstädte mit Pferden und Kamelen vorstellen, nervt ihn. Seine Heimat ist die funkelnde Metropole. „Wir hatten alles“, sagt er. Gleich zu Beginn des Gesprächs bittet er, ihm keine Fragen darüber zu stellen, was er in Syrien gesehen hat: „Ich habe erlebt, was Krieg heißt.“ Auch über seinen in Damaskus gebliebenen Vater könne er nicht sprechen. „Es geht dabei um Politik. Mein Vater wird Syrien nicht verlassen, und er darf auch nicht.“ Der Raubbau der Islamisten an seiner Heimat deprimiere ihn, sagt er. „Sie zerstören unser Land und unsere Religion. Wenn Menschen das Wort Islam hören, denken sie sie an Männer, die ,Allahu Akbar‘ rufen und Menschen die Köpfe abschneiden. Es sind so wenige, die so sind, aber viele denken, alle Muslime sind so.“ Es tut ihm weh, dass von der Schönheit Syriens hier kaum einer etwas kennt. „Jetzt sehen die Leute Bilder von meinem Land im Fernsehen und sehen nur Gewalt und Zerstörung. Noch vor fünf Jahren war für uns eigentlich alles in Ordnung.“
Wie es seiner Mutter und ihm gelungen ist, von Griechenland einen Flug nach Paris zu nehmen und von dort nach Wien zu gelangen, führt Baher nicht aus. Seine Mutter sei in Wien geblieben, er dagegen in ein weiteres Flugzeug gestiegen und nach Frankfurt geflogen. Von dort aus habe er zurück nach Damaskus reisen wollen. Dass er, wie er sagt, in Frankfurt seine zweite Heimat gefunden hat, mittlerweile gutes Deutsch spricht und ein Praktikum bei einer großen Bank begonnen hat, sei ein Zufall gewesen. Am Flughafen seien deutsche Beamte auf ihn aufmerksam geworden, nachdem er mit seinem syrischen Pass ein Ticket nach Istanbul gebucht hatte. Drei Tage habe er am Flughafen geschlafen, die Polizisten kümmerten sich um ihn, stellten ihm viele Fragen und boten ihm Hilfe an. An der Begegnung mit den deutschen Beamten läge es, dass er jetzt hier in Deutschland sei, sagt Baher. Weil er auch mit ihnen nicht über die Umstände seiner Familie in Damaskus sprechen konnte, vermied er Diskussionen und nahm ihre Hilfe an. Seine Erfahrung am Flughafen war die erste mit Deutschen überhaupt, und sie prägt ihn bis heute. Am Morgen vor unserem Treffen hat er eine Bewerbung für die Polizeischule geschrieben. „Ich will in Deutschland Polizist werden und etwas zurückgeben“, sagt er, „das ist mein Traum“.
„Jeder kann etwas aus sich machen“
Über die Flüchtlingshilfe im Frankfurter Ostend kam Baher zunächst in eine Institution im Taunus, inzwischen lebt er mit fünf anderen jungen Flüchtlingen aus Afghanistan und Somalia in einem Hotel bei Oberursel, wo sich jeweils zwei von ihnen ein Zimmer teilen. Im Alltag machen sie fast alles gemeinsam: Haare schneiden, waschen, kochen, lernen, Papierkram erledigen, man hilft sich gegenseitig. Jeden Tag ging er im vergangenen Jahr zur Schule, nahm am Mathematik- und Politikunterricht teil und besuchte einen Deutschkurs. Ein Zeugnis für sein sehr gutes Abitur habe er nicht. Doch er ist überzeugt, auch ohne das Papier zu beweisen, wie ehrgeizig er ist: „Man sieht, ob jemand etwas gelernt hat oder nicht.“
Das Jugendamt vermittelte Baher außerdem an die Initiative Joblinge in Frankfurt, die Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen bei der Eingliederung ins Arbeitsleben unterstützt. Mithilfe der Pädagogen bekam er das Praktikum bei einer Bank. Im Laufe der Zeit hat er viele Jugendliche und junge Erwachsene ohne Abschluss oder Ausbildung kennengelernt, doch ihre Einstellung kann er nicht nachvollziehen. „Jeder kann etwas aus sich machen, man muss nachdenken und sich konzentrieren.“ Er habe gelernt, sich um sich selbst zu kümmern und mit wenig auszukommen, sagt er selbstbewusst. Er mag den Gedanken nicht, Geld vom Staat zu bekommen. Doch er hat sich vorgenommen, es als Starthilfe zu sehen, um noch mehr Gas geben zu können. Sonntag bis Freitag seien für ihn reserviert zum Lernen und Arbeiten, sagt er, das Wochenende für Partys.
„Ich bin Muslim, meine Freundin ist Christin. Wo ist das Problem?“
In der Schule lernte er auch seine Freundin kennen. Sie wurde in Deutschland geboren und macht bald ihren Realschulabschluss. Ihre unterschiedlichen Kulturen seien überhaupt kein Thema, so wie ihm überhaupt Diskussionen über verschiedene Haltungen und Religionen fremd seien. „Ich bin Muslim, meine Freundin ist Christin, wo soll das Problem sein?“ In „seiner Stadt“ würden Menschen nicht danach beurteilt, welchem Glauben sie angehören. „Unsere Familie ist ein bisschen anders“, sagt er und meint, dass sie die Lehren des Koran im Alltag liberal auslegen. „Ich glaube daran, was ich von meinem Vater über unsere Religion gelernt habe. Beten ist gut, aber es macht keinen Gläubigen aus einem, wenn man danach gleich wieder Scheiße baut.“
Auch wenn er vor nichts mehr Angst hat, fürchtet sich Baher ein bisschen davor, im Praktikum nicht mithalten zu können. Sein Deutsch ist gut, doch viele Fachausdrücke kennt er noch nicht. In zehn oder fünfzehn Jahren möchte er so viel Erfolg haben, um in Deutschland und Syrien leben zu können: „Einen Fuß hier und einen in Damaskus, das wäre perfekt.“ Er weiß, dass er dafür viel Geld verdienen muss, obwohl er Geld eigentlich missachtet: „Der Krieg in Syrien ist Business, alles ist Wirtschaft. Es geht nur um Geld.“ Als er kam, hatte er gar nichts. In fünf Jahren will er so viel haben wie viele Deutsche, sagt er. „Ich weiß, dass ich viel zu tun habe.“
Vorzeigeflüchtling?
Das ist ein sehr schöner, optimistischer Bericht. Allerdings handelt es sich hier mit Sicherheit nicht um den typischen Flüchtling. Er ist nämlich kein Flüchtling, sondern ein Immigrant, ob legal oder illegal wäre noch zu klären, und ein Ausnahmefall, der vielleicht für 10 Prozent der Immigranten repräsentativ ist. Ich sehe die Tendenz, dass in den Medien ganz überwiegend solche „Vorzeigeflüchtlinge“ portraitiert werden, was die Realität verzerrt und wohl eine Art des sich-selbst-Mutmachens ist.
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„… flogen sie in die Türkei … Um nach Europa zu gelangen, zahlten sie viel Geld … von Griechenland einen Flug nach Paris zu nehmen und von dort nach Wien … ein weiteres Flugzeug gestiegen und nach Frankfurt geflogen.“
Und diese Leute sind nicht in der Lage, in Syrien medizinische Versorgung zu finden ?
Zensur?
Ich habe das Gefühl, dass in diesem an sich sehr wünschenswerten Blog schon wieder eifrig zensiert wird!
Guten Tag Herr Eckstein,
das Gegenteil ist der Fall – allerdings lesen wir jeden einzelnen Kommentar, deshalb dauert es mitunter ein wenig, bis diese veröffentlicht werden. Beste Grüße, Oliver Georgi
0 Lesermeinungen?
Unterrichten Sie doch Ihre Leser korrekt. Sie haben mindestens eine Lesermeinung erhalten. Schade, dass Sie sie verheimlichen. Welchen Grund mag es dafür geben?
Mit fielen Grüssen,
Bernard del Monaco
Sehr geehrter Herr del Monaco,
wir veröffentlichen Lesermeinungen – nur, wie schon an einem anderen Beitrag angemerkt, kann es mitunter eine kleine Weile dauern, bis die Kommentare erscheinen, weil die Autoren sie alle lesen und freigeben müssen. Wie auch generell bei Lesermeinungen gilt: Was rassistisch ist, gegen die Persönlichkeitsrechte oder anderweitig gegen das Grundgesetz verstößt bzw. strafrechtlich relevant ist, werden wir nicht veröffentlichen.
Beste Grüße, Oliver Georgi
Baher hat es geschafft
Und es sei ihm gegönnt! Er hat viel über seine Erwartungen geschrieben „soviel haben wie viele Deutsche“. Er sollte wissen, dass die Deutschen mehrere Generationen gearbeitet haben, um diesen Wohlstand zu erzielen Ist Baher dazu auch bereit? Außerdem : Was ist wohl sein Beitrag zu unserer Gesellschaft?