In einem umzäunten Containerdorf auf der griechischen Insel Samos, wo er zur wochenlangen Untätigkeit verdammt war, hat der damals 16 Jahre alte Ahmed Rifai* zum ersten Mal Sehnsucht nach Schule gespürt. Ein Flüchtling, gefangen in der Ungewissheit, fern von seiner Heimat Syrien und fern von einem Zufluchtsort, an dem er dauerhaft bleiben kann.

Es ist erst elf Monate her, dass Ahmed ohne Familie und ohne Sprachkenntnisse in Deutschland ankam. Elf Monate, in denen der junge Mann fließend Deutsch gelernt hat. Heute gilt er an seiner Frankfurter Gesamtschule als Musterschüler. Woher kommt dieser Fleiß, dieser Ehrgeiz? „Früher war ich nicht so“, sagt der junge Mann und blickt zu Boden. Früher, das war sein ruhiges Leben in einem kleinen Ort in der Nähe von Damaskus, mit Freunden und Familie, mit Schule als lästigem Übel. Ganz normal eben. Bis der Bürgerkrieg heranrückte, Raketen einschlugen und die Mutter ihn nicht mehr allein auf die Straße ließ. An Schulbesuch war nicht mehr zu denken. Nur noch an Flucht.
Zusammen mit seinem Onkel und dessen Familie bricht Ahmed im September 2014 auf. Mit dem Auto gelangen sie problemlos über den Libanon in die Türkei. Ahmeds Mutter, die getrennt von ihrem Mann lebt, vermisst ihren Sohn. Sie verkauft ihre Habe und reist ihm mit seine Schwestern Jasmin (21) und Sara (22) nach.
2000 Euro – für den Tod auf dem Mittelmeer?
Der gefährlichste Teil der Reise, die kurze Überfahrt von der türkischen Küste zur griechischen Insel Samos in einem einfachen Holzboot, soll nur wenige Stunden dauern. Die Schlepper gehen gar nicht erst mit an Bord, das Boot gerät in Seenot. 22 Menschen, darunter Familien mit kleinen Kindern, treiben hilflos vor der rettenden Küste. Für jeden Passagier haben die Schlepper fast 2000 Euro kassiert. „Das schien in diesen Momenten der Preis für unseren Tod zu sein“, beschreibt Ahmed seine Ängste. Doch die Küstenwache rettet die Flüchtlinge in letzter Minute.
Auf Samos werden die Flüchtlinge in einem Containerdorf untergebracht. Saubere Betten und drei Mahlzeiten am Tag – doch Ahmed fühlt hier nicht die Sicherheit, er empfindet die Enge als Gefängnis. Niemand darf den umzäunten Bereich verlassen. Zwölf Tage lang können sie nur herumsitzen und warten, dann bekommen sie neue Papiere: eine sechsmonatige Duldung in Griechenland. Danach müssen sie das Land verlassen.
Wohin – das weiß die Familie noch nicht. Diese Wochen und Monate der Ungewissheit, der Ziellosigkeit haben den jungen Syrer geprägt. „In dieser Zeit habe ich so viel Hunger auf die Schule bekommen“, sagt Ahmed. „Warum wir lernen, wozu wir all das brauchen, habe ich erst unterwegs verstanden.“ Die Flucht hat ihn das Lernen gelehrt.

Ein Schiff bringt die Rifais von Samos nach Athen. Wie Backpacker ihre Reisetipps in Jugendherbergen austauschen, handeln Flüchtlinge in den Camps mit Informationen über Schlepper, Routen und Anlaufstellen. So wusste Ahmeds Familie genau, wo sie illegal unterkommen könnten und wer ihnen falsche Papiere für einen Flug nach Österreich besorgen würde.
Für diese Art der Reisevermittlung existieren illegale Pop-up-„Reisebüros“ – mit einer Garantieklausel: Die Flüchtlinge müssen vorab den Reisepreis hinterlegen, aber der Schlepper erhält den Betrag erst, wenn die Flüchtlinge tatsächlich ihr Ziel erreicht haben. In Ahmeds Fall bekam die Familie ihr Geld zurück, denn schon am Flughafen in Athen flog sie mit ihren gefälschten Papieren auf. Die Rifais wurden festgehalten und nach unangenehmen 24 Stunden in Polizeigewahrsam wieder auf die Straße gesetzt.
Beim zweiten Anlauf ist die Familie vorsichtiger. Ahmed soll es allein versuchen, als Minderjähriger in Begleitung eines unbekannten Erwachsenen, den ein zweiter Schlepper mitschickt. Woher kam dieser Schlepper? Ahmed hebt den Kopf. Der sei Europäer gewesen, sagt er vorsichtig und fragt, als ob er Vorurteile wittere und verhindern wolle: Soll ich wirklich sagen, aus welchem Land?
„In Frankfurt fühlte ich mich endlich frei“
Am Ende des Winters, Mitte März, landet der 16-Jährige in Frankfurt. Es liegt noch etwas Schnee. Der Mittelsmann begleitet ihn noch bis zum Hauptbahnhof, dann ist Ahmed auf sich gestellt. War das nicht ein beängstigender Moment? Der bloße Gedanke belustigt ihn. „In Frankfurt anzukommen war super! Endlich fühlte ich mich frei. Und ich war so stolz, dass ich es geschafft hatte.“
Mit seinen Englischkenntnissen schlägt er sich zur nächsten Polizeistation durch, dort informiert man die Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge. Noch heute erinnert sich Ahmed an die Freundlichkeit des Mannes, der ihn abholt: „Er hat mir sogar die Tür des Autos aufgehalten, damit ich einsteigen konnte!“ Der Betreuer leiht ihm auch sein Handy, damit Ahmed endlich seine Mutter in Griechenland beruhigen kann, dass er gut angekommen ist.
Hier in Deutschland fühlt Ahmed sich endlich sicher. Er fürchtet keine Angriffe, er fürchtet die Ungewissheit. Sicherheit bedeutet für den 17-Jährigen, von einer Zukunft zu träumen, die man aus eigener Kraft erreichen kann. Seine Reise hat ihn auch gelehrt, wie wertvoll das war, was er unwiederbringlich verloren hat. Dieses ruhige Leben in der Nähe von Damaskus.
(*der Name wurde von der Redaktion geändert)
Hübscher Beitrag!
Danke.