Die deutsche Ökostrom-Branche ist in heller Aufregung. Der Grund ist der Richtlinienvorschlag der EU-Kommission für ein europäisches Zertifikatesystem für Ökostrom, den die Kommission am 23. Januar vorlegen wird. Der Vorschlag sieht aller Voraussicht nach vor, dass jede Kilowattstunde Strom, die aus erneuerbaren Energien stammt, ein Zertifikat erhält, das die Produzenten des Ökostroms dann verkaufen können. Der Preis des Zertifikats soll dann die Mehrkosten abdecken, welche die Produktion des Ökostroms im Vergleich zu konventionellem Kohle- oder Atomstrom verursacht. Gestaffelte Einspeisevergütungen wie in Deutschland könnten von diesem System abgelöst werden.
Genau diesen Effekt fürchtet die deutsche Ökostrom-Branche, vor allem die Solaranbieter, da keine Unterschiede mehr zwischen den verschiedenen Arten erneuerbarer Energie aus Wasser, Wind oder Sonne gemacht werden. „Billige Ökostrom-Angebote, zum Beispiel aus Wasserkraft oder Windkraft, profitieren von Mitnahmeeffekten, während die Solarenergie hinten runter fallen wird. Insgesamt wird der Ausbau der erneuerbaren Energie verlangsamt und für die Verbraucher wird es auch noch teurer“, kritisiert Milan Nitzschke, Geschäftsführer des Bundesverbandes Erneuerbare Energie (BEE). Die Erfahrungen aus Großbritannien, wo das System bereits im Einsatz ist, zeigten diese Entwicklung sehr deutlich.
Nach seiner Ansicht wird das Zertifikatesystem den Bau großer Windparks an günstigen Standorten wie der französischen Atlantikküste beflügeln. „In erneuerbare Energien wie die Photovoltaik, die Geothermie oder kleine Biogasanlagen, die heute Strom noch zu Kosten oberhalb der Summe aus normalen Strompreis plus des Zertifikatepreises liefern, wird nicht mehr investiert“, kritisiert Nitzschke. Diese Energieformen hätten dann nicht mehr die Zeit, ihren Weg zur Marktreife fortzusetzen.
Auch Uwe Leprich, Energiefachmann an der Universität Saarbrücken, sieht negative Effekte, vor allem für den Wettbewerb: „Das Zerfikatesystem garantiert keinen verlässlichen Zahlungsstrom für die Produktion des Ökostroms, wie es das Erneuerbare Energien Gesetz (EEG) in Deutschland tut. Darunter werden vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen der Ökostrom-Branche leiden. Sie schwer es haben werden, auf dieser Basis noch günstige Kredite zu bekommen. Freuen dürfen sich nur die Großunternehmen“, sagte Leprich dieser Zeitung. Nur die großen Versorger hätten die finanziellen Mittel, noch in erneuerbare Energie zu investieren. Er plädiert daher für die Beibehaltung des EEG. „Der wahre Treiber der Ökostrom-Produktion ist das EEG. Es ist zu früh, das Modell aufzugeben“, sagte Leprich. Sebastian Gallehr, Chef des European Business Council for Sustainable Energy, plädiert für einen gleitenden Übergang in das neue System: „Wir werden Einspeisetarife auf absehbare Zeit brauchen, denn die Zertifikate bringen keine Entwicklung. Aber ich könnte mir vorstellen, die Windkraft in drei oder vier Jahren aus dem EEG heraus in das Zertifikatesystem zu überführen“, sagte Gallehr dieser Zeitung.
Der Grund für die geplante Einführung des umstrittenen Systems liegt in den Verpflichtungen für alle EU-Länder, verbindliche Ziele für den Einsatz erneuerbaren Energien einzuhalten. Deutschland wird wohl das Ziel erhalten, 18 Prozent seines gesamten Energieverbrauchs bis zum Jahr 2020 aus erneuerbaren Energien zu gewinnen. Das wäre mehr als eine Verdoppelung gegenüber dem aktuellen Niveau. Die gesamte EU will ihren Anteil an erneuerbarer Energie auf 20 Prozent aufstocken.
Ähnlich wie beim Handel mit den Kohlendioxid-Emissionsrechten sollen die Länder die Ziele aber nicht zwingend im eigenen Land erfüllen müssen. Sie können die fehlenden Zertifikate auch im europäischen Ausland zukaufen, zum Beispiel in Deutschland. Der Preis für die Zertifikate hängt dann von den Investitionen in erneuerbare Energie ab: Bleiben die Länder mit dem Ausbau der Ökostrom-Kapazitäten weit hinter den EU-Zielen zurück, wird die Nachfrage nach den Zertifikaten und daher auch der Preis hoch sein. Entsprechend teurer wird der Ökostrom sein, denn die Produzenten der Anlagen haben keine Anreize mehr, ihre Kosten zu senken. Schon im Vorfeld des Richtlinienvorschlags sind daher die Preise für Windanlagen gestiegen, wovon sich einige Hersteller wie das dänische Unternehmen Vestas steigende Umsätze erhoffen.
Einen Vorgeschmack auf die Wirkung eines solchen Systems zeigt sich zur Zeit auf dem deutschen Strommarkt. Viele Energieanbieter kaufen sich Zertikate des von den großen Energieversorgern ins Leben gerufene Vorläufersystems RECS, um damit ihren konventionellen Strom in leichter vermarktbaren Ökostrom zu verwandeln. Verkäufer der Zertifikate sind vor allem die etablierten Wasserkraftanbieter in Skandinavien, Österreich und der Schweiz. Der Effekt für die Umwelt ist allerdings gleich Null. „Die Kritik ist dann berechtigt, wenn die Zertifikate nur aus Altanlagen stammen. Die Zertifikate per se bringen keinen Umweltnutzen und setzen nicht automatisch einen Anreiz, in neue Kapazitäten für erneuerbare Energie zu investieren“, sagte Dominik Seebach, Energiefachmann am Öko-Institut, das die Regeln für RECS – die Abkürzung steht für Renewable Energy Certificate System – mit überwacht. „RECS selbst ist ja auch kein Öko-Label, sondern dient lediglich als Herkunftsnachweis. Um empfehlenswerte Produkte mit RECS zu entwickeln, ist entscheidend, dass die Zertifikate aus Neuanlagen bezogen werden.“, sagte Seebach. Da das Angebot an Zertifikaten aus Altanlagen die Nachfrage weit übersteigt, liegt der Preis nur bei rund 0,05 Cent je Kilowattstunde. Die deutschen Stromanbieter können ihren Strom daher sehr billig als Ökostrom deklarieren, um damit leichter Kunden im inzwischen hart umkämpften Strommarkt zu halten oder zu gewinnen. Wer wirklich erneuerbare Energie fördern will, sollte als Verbraucher auf das richtige Öko-Label achten, zum Beispiel OK Power oder Grüner Strom Label, da nur diese Label Anreize für neue Investitionen in erneuerbare Energien setzen, empfehlen Verbraucherschützer.
Ob das System ohne Ausnahme für alle EU-Länder verpflichtend eingeführt wird, ist allerdings noch nicht sicher. Die deutsche Regierung wehrt sich gemeinsam mit Spanien nach Kräften gegen die Einführung. Der Vorschlag, den grenzüberschreitenden Handel mit den Zertifikaten zu begrenzen, wurde jedoch vom juristischen Dienst der Kommission inzwischen als rechtswidrig eingestuft. „Im Moment scheint sich die Kommission in die Richtung zu bewegen, den Ländern freizustellen, ob sie an dem System teilnehmen wollen. Deutschland könnte dann einfach nicht mitmachen“, sagte Oliver Schäfer, Politikdirektor beim Dachverband der Europäischen Erneuerbaren Energie Industrie (EREC) in Brüssel. Er ist optimistisch, dass die Kommission die heftige Kritik an dem Zertifikatesystem berücksichtigt. „Die Kommission kann nicht auf der einen Seite feststellen, dass das Zertifikatesystem das ineffizienteste und teuerste Ökostrom-System ist und es auf der anderen Seite einführen“, sagte Schäfer.
HOLGER SCHMIDT