Die Post bringt einen Brief vom Kredikartenunternehmen. Es schließt sich den immer schriller werdenen Sirenenstimmen an, die mit Gordon Brown an der Spitze die Briten ermutigen, mehr Geld auszugeben. Der Brief flüstert dem Empfänger zu: „Gib bis Weihnachten zweitausend Pfund aus und wir belohnen dich mit fünfhundert Bonuspunkten.“ Im Poststapel liegen neben den üblichen Rechnungen außerdem persönlich adressierte Einladungen zu skontierten Shoppingabenden. Als zusätzlicher Anreiz werden Getränke und Häppchen in Aussicht gestellt. Jedes Unternehmen lässt sich etwas anderes einfallen. Am vergangegen Freitag, als Kaufhäuser der Londoner Oxford Street verschlafenen Büroarbeitern um sieben Uhr morgens die Türen öffneten, lockte sogar Frühstückschampagner mit Orangensaft. Eine kauffreudige Freundin, die wegen Auslandsreisen einige Zeit kein Geld mehr bei einer der Luxusboutiquen gelassen hatte, wo sie Stammkundin ist, erhielt das Angebot, mit der Limousine von der Arbeit abgeholt und in das Geschäft gefahren zu werden. Die Verkäufer seien auch bereit, sie nach Ladenschluss zu empfangen, wenn ihr das besser passe.
Die Kinder, die sonst versuchen, Starbuckssmoothies oder sonstige Naschereien zu erpressen, wenn die Mutter verlangt, daß sie sie beim Einkaufen begleiten, sind plötzlich bereit, ohne Bestechung mitzukommen. Sie haben gehört, dass die Geschäfte lauter Werbegeschenke verteilen. Die Tochter meint sogar, bei Woolworths gebe es alles umsonst. Das erweist sich zwar als falsche Hoffnung. Es stimmt jedoch, dass pfiffige Sparer, Unbetuchte und geübte Schnorrer sich satt essen könnten an den Gaben, mit denen verzweifelte Kaufhäuser das schleppende Weihnachtsgeschäft ankurbeln wollen – bisher ohne Erfolg. Rabatte von bis zu fünfzig Prozent beeindrucken den Verbraucher nicht. Vielmehr sondiert er den Markt und setzt darauf, dass die Preise noch weiter sinken. Die Not hat die zurückhaltenden Briten auch das Feilschen gelehrt. Einer Umfrage zufolge sind jetzt siebenunvierzig Prozent von ihnen bereit, den Preis herunterzuhandeln, fünfzig Prozent mehr als im Vorjahr. Auf viele wirken größere Ausgaben in der gegenwärtigen Stimmung fast schon obszön. Deswegen liefert Net a Porter, ein Internetdienst für Designermode, den Kunden, die trotzdem sündigen wollen, die Ware in nicht gekennzeichnetem, braunen Recyclingpapier. Das Geheimnis bleibe zwischen Käufer und Verkäufer gewahrt, versichert der Anbieter.
Seit Ende der neunziger Jahre sind britische Verbraucher den Versuchungen der Konsumkultur erlegen, haben sie die dehnbare Kreditgrenze bis aufs Äußerste strapaziert. Die allerletzten elektronischen Gadgets, die schickste Sitzgarnitur, die neusten Designerlabels mussten sein, auch wenn die Schränke schon zum Bersten voll waren und sie das Geld nicht auf dem Konto hatten. Doch nun ist die Orgie mit einem Schlag vorbei, obwohl die Regierung zum Weitermachen animiert. Sie gebiert sich wie Lord Kitchener auf den berühmten Rekrutierungsplakaten aus dem Ersten Weltkrieg, wo der Feldmarschall mit behandschuhtem Finger auf die britische Öffentlichkeit zeigt und erklärt: „Euer Land braucht euch.“ Seitdem Brown das Einkaufen zur nationalen Pflicht erklärt hat, macht das Geldausgeben keinen Spaß mehr.
Die meisten Briten betrachten die steuerlichen Stimuli skeptisch, zumal sie wissen, dass das Beil später fallen wird. Es will den Menschen auch nicht einleuchten, dass ausgererechnet das leichtsinnige Konsumverhalten nach dem Motto „Kaufe jetzt, zahle später“, das die Nation in die Krise gestürzt hat, jetzt plötzlich auch als Rettungsmaßnahme ausgerufen wird, als verschreibe man einem Drogenabhängigen mehr Heroin. Der Süchtige aber hat sich selber für eine Entziehungskur angemeldet.
Das Land steht vor dem Dilemma, das der lange verschmähte, jetzt wieder vielfach beschworene Ökonom John Maynard Keynes als das „Paradox der Sparsamkeit“ bezeichnet hat: wenn alle den Gürtel in schweren Zeiten enger schnallen und sparen, schadet es der Wirtschaft. Das widerspricht allerdings dem Instinkt, dem die meisten folgen wollen, angefangen mit der Königin, die ihre Bodenständigkeit unlängst bei einem Besuch der London School of Economics auf grandiose Weise an den Tag legte. Sie sprach ihren Untertanen aus der Seele, als sie die klugen Köpfe, die sie dort empfingen, fragte, warum niemand die Kreditkrise vorausgesehen habe. „Weil auf jeder Stufe jemand sich auf jemand anderen verlassen hat und alle glaubten, das Richtige zu tun“, lautete die unbefriedigende Antwort eines der Professoren. Die Königin hat ihre Küche angewiesen, Ausgaben einzuschränken, indem sie möglichst viele Lebensmittel aus der hauseigenen Produktion bezieht: Äpfel aus Sandringham, Reh aus Balmoral, Gemüse und Milchprodukte aus Windsor.
Britische Familien halten es ähnlich. Sie behelfen sich Weihnachten mit Selbstgemachtem und Gebasteltem. Die Supermarktkette Waitrose beitet in der Fleischabbteilung „Vergessene Schnitte“ an, wie Rinderkamm und -brust, die zu Großmutters Zeiten auf dem Menü standen, in den satten Jahren, als Rumpsteak und Filet verlangt wurden, jedoch aus der Mode kamen. Auch Innereien sind jetzt wieder stärker gefragt.
Je mehr sich die Briten einschränken, desto größer die Verwunderung oder gar Empörung über die Prioritäten, die vom Staat gesetzt werden. Gordon Brown findet Zeit, um den Finalisten der ITV-Talentshow in persönlichen Briefen Mut zu machen. Die Polizei von Torbay im südenglischen Devon verteilt auf Kosten des Steuerzahlers (30 000 Pfund) vor den beliebten Kneipen der Stadt Flip-Flops an betrunkene Frauen, damit sie nicht in ihren Stöckelschulen nach Hause taumeln und sich dabei unter Umständen verletzen. Und die Antiterroreinheiten halten es offenbar für wichtiger, gegen einen konservativen Abgeordneten vorzugehen, dem Dokumente aus dem Innenministerium zugespielt wurden, statt den möglicherweise nach England führenden Spuren der Mörder von Bombay zu folgen. Während der Schrecken in Indien waltete, wurde Damian Green, Oppositionssprecher in Einwanderungsfragen, gegen zwei Uhr morgens festgenommen und neun Stunden lang verhört, weil er Informationen publik machte, welche die Regierung der Öffentlichkeit vorenthalten wollte, darunter die Tatsache, dass Tausende von illegalen Einwanderern die offizielle Genehmigung erhielten, als Sicherheitsbedienstete zu arbeiten. Sollte sich der Verdacht verhärten, dass britische Staatsbürger unter den Terroristen waren, die übrigens von der beschwichtigenden BBC beharrlich als Militante bezeichnet werden, käme ihnen die fragwürdige Auszeichnung zu, in diesen rezessiven Zeiten der erfolgreichste britische Exportartikel zu sein.