London Eye

Der Lippenstiftfaktor

In unserem Viertel im Westen Londons fahren in diesen Tagen  zwischen den Jahren nur vereinzelte Wagen. Die Geschäfte sind fast menschenleer. Durch die mit Sonderangebotsschildern beklebten Schaufenster sieht man die untätigen Verkäufer, die vor der skontierten Ware träge Nichtigkeiten austauschen, um sich die Zeit zu vertreiben. Sie zählen die Stunden bis zum Ladenschluss. Während der Schulferien geht der Verkehr immer deutlich zurück. Jetzt aber herrscht fast unheimliche Stille. Den Ladenangestellten ist die Sorge ins Gesicht geschrieben. Sie wissen, an welch dünnem Faden der nächste Wochenlohn hängt. Die fehlende Kundschaft könnte ihr Schicksal besiegeln. Unkenrufer sagen bis Mitte Januar den Konkurs von weiteren fünfzehn namhaften Einzelhandelsunternehmen voraus. Bei der örtlichen Woolworths-Filiale in der Portobello Road sind die Rollläden bereits zum letzten Mal heruntergefahren worden. Um die Ecke hat der Scooterladen, der mit retro-schicken Vespas lockte, dicht gemacht. Die gesamte Ware ist ausgeräumt. Die Tür des zypriotischen Lokals daneben ist zugebrettert. In den nobleren Vierteln von Knightsbridge oder St James’s werden solche Schließungen so diskret wie möglich gehalten. Das Sperrholz wird mit einer dem Rahmen angepassten Lackfarbe überstrichen, damit die Pleite weniger auffällt.

Dennoch beginnt sich der wirtschaftliche Rückgang im Stadtbild zunehmend bemerkbar zu machen.

 Landesweit sollen bereits viertausend Hausmaklerbüros geschlossen haben – etwa ein Viertel der Gesamtzahl. Im Sommer 2007 waren achtzigtausend Makler beschäftigt. Inzwischen ist die Zahl auf achtundvierzigtausend gefallen. Bei der letzten Immobilienrezession Anfang der neunziger Jahre habe das Geschäft peu à peu nachgelassen, wie beim Runterdrehen des Lichtes mit dem Dimmerschalter, berichtet ein erfahrener Makler. Diesmal sei es gewesen, wie wenn die Sicherung durchbrennt. Mit einem Schlag sei alles zum Stillstand gekommen.

Auch die Verhaltensmuster verändern sich. Die Menschen gehen mit gedämpften Vorstellungen ins neue Jahr. Bei der Karriereplanung hat die Sorge um den sicheren Arbeitsplatz Vorrang über jedwede Beförderungsansprüche. Die vorherrschende Grundeinstellung ist, einer Umfrage unter Büroangestellten zufolge, sich reinzuknien und zu hoffen, daß die Stelle die Rezession überdauert. Citizens‘ Advice Bureau, ein Netz von unabhängigen Wohltätigkeitsorganisationen, das kostenlosen Rat in rechtlichen, finanziellen und verbraucherorientierten Fragen erteilt, meldet eine deutliche Vermehrung der Nachfragen über Entlassungen von durchschnittlich 189 täglichen Anfragen im April auf 425 im November, eine Steigerung von 125 Prozent.

Trotz dieser Zukunftsängste beobachtet man eine gewisse Schizophrenie. Die besten Restaurants sind immer noch voll und während die Boutiquen im Londoner Westen leer bleiben, tummeln sich die Massen in den Kaufhäusern auf der Oxford Street. Am vergangenen Sonntag war in den umliegenden Straßen keine einziger Parkplatz zu finden. Ganz London hatte, so schien es, Gordon Browns Aufruf erhört, sich durchs Einkaufen um das Vaterland verdient zu machen, und war mit der Kreditkarte auf Schnäppchenjagd. Die edelste und teuerste unter den Supermarktketten hat mit dem Weihnachtsgeschäft trotz der Misere eine Umsatzsteigerung von mehr als dreizehn Prozent gegenüber dem Vorjahr verzeichnet. Die Leute wollen sich etwas Gutes tun, auch wenn die Mittel knapp sind. Bei dem Billiganbieter Lidl, dem ähnlich wie Aldi die Kreditklemme zugute kommt, laufen die gefrorenen Hummer im Sonderangebot wie von selbst. Britische Haushalte scheinen sich in der eigenen Küche für die Entbehrung von anderen Luxusausgaben wie dem Restaurantbesuch entschädigen zu wollen. Der Verkauf von Zwiebeln etwa ist um bis zu achtzig Prozent gestiegen, bei Brühwürfeln wird ein Wachstum von 154 Prozent gemeldet, der Umsatz von Petersilie hat sich um fast hundert Prozent vermehrt. Früher pflegten die Briten mit einem Fertiggericht vor dem Fernseher und schauten zu, wie ein Jamie Oliver, eine Nigella Lawson oder ein Gordon Ramsay ihr Künste vorführten: Kochen als Zuschauersport. Jetzt nötigt die Kreditklemme die „Couchkartoffeln“ selber an den Herd zu gehen. Auch Kochlöffel haben die Verkäufe um 77 Prozent zugenommen. Hingegen wird bei Fertiggerichten gespart.

 

 Zu den Krisengewinnlern gehört auch die Kosmetikindustrie. Das war bereits in der Großen Depression der 1930er Jahre der Fall. Während andere Betriebe erlahmten, konnten die Hersteller von Schönheitsprodukten einen Aufschwung verbuchen. Auch jetzt wird in England auf den sogenannten Lippenstiftfaktor gesetzt – das Bedürfnis auch in schweren Zeiten ein Wohlgefühl zu schaffen durch den kleinen Luxus.

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