Das kleine Israel hat die lebendigste Internetszene. Im Techniklabor entstehen dort die nächsten Trends für das Internet und unser Leben.
Plötzlich steht am Bahnhof eine Frau vor Ivo. Er kennt sie nicht, aber sie kennt ihn. Sie fragt, ob er derjenige ist, der eben den Zug verpasst hat. Schon bindet sie ihm eine neue Uhr um das Handgelenk. Allein deshalb, weil er gerade via Facebook und Twitter schrieb, dass er seine Bahn nur noch wegfahren gesehen habe. So funktioniert Werbung in Echtzeit. Sie fotografiert die Uhr und wird die Aufnahme gleich in soziale Netzwerke stellen, um Klicks auf ihren Auftraggeber, den Uhrenhersteller, zu lenken.
- Hinein ins Haus eines Kapitalgebers in Jerusalem
- In den Räumen von Jerusalem Venture Partners arbeiten Firmen, an denen es beteiligt ist.
- Innenhof in Jerusalem: Kleine Aus- und Sonnenzeit für Gründer
- Wer in Israel mit einem Start-up scheitert, gilt nicht als gescheitert.
- Start-up-Nation: Jedes Jahr gründen Israelis 500 weitere Internetfirmen.
Doch wie hat sie ihn so schnell gefunden? Tracx schafft das. Das junge, israelische Unternehmen durchsucht das Internet besonders in sozialen Netzwerken. “Wir sammeln alle öffentlichen Daten”, sagt Sharon Weshler, der für die Unternehmensentwicklung zuständig ist. Tracx macht die unendliche Online-Masse durchsuchbar. Ob männlich oder weiblich, ob in Madrid oder Berlin, ob 16 Jahre alt oder 61 Jahre alt: das Unternehmen filtert sein System mit gewaltiger Datenmenge nach allen Wünschen und spuckt jeweils einen überschaubaren Teil heraus. Damit finden schon Unternehmen wie Coca-Cola, Visa oder Rolex heraus, was online über sie gedacht wird und worauf sie reagieren müssen. Was hilft der Marke, und was schadet ihr? “Mit dem Chaos im Internet brauchst du jemanden, der dir sagt, was gut und was schlecht ist”, findet Weshler.
Die Idee mit der Uhr für den Zuspätkommer spricht er an diesem Tag in Tel Aviv im israelischen Institut für Export und internationale Zusammenarbeit aus. Vor ihm sitzen Vertreter deutscher Unternehmen, von der Post, von einer Messegesellschaft und von großen Verlagen, die er zu überzeugen versucht. Immer wieder weist er mit den Fingern auf die Präsentation hinter sich und zeigt, was mit seinem System alles möglich ist. Er könnte dem Uhrenhersteller alle Online-Einträge liefern, in denen “Zug” und “verpasst” vorkommen – und diese mit dem exakten Ort versehen. Der müsste nur noch eine Person losschicken. Jeder fünfte Tweet enthält genaue GPS-Koordinaten, berichtet er.
Die Deutschen wollen die lebendige Internetszene Israels erkunden. Sie sind auf einer Reise des Verbands der deutschen Zeitschriftenverleger hierhergefahren, zu der der Verband auch diese Zeitung eingeladen hat. Sie hören von Tracx und wie Internetfirmen mit ihnen zusammenarbeiten können. Sie erfahren, dass die Online-Leser immer mobiler werden und Inhalte immer gezielter auf Einzelpersonen gerichtet werden.
Quickbreak verspricht etwa, dass sie jeder Person die passenden mobilen Videos zeigen können. Wie? “Wir sind nicht der FBI”, lacht Ko-Gründer Gil Margulis zwar. Details nennt er aber nicht. Es liege an ihrer Technologie, sagt er nur. Auskunftsfreudiger ist Personyze, das dem Leser nicht alle Inhalte eines Internetauftritts zeigen will, sondern nur die Themen, die ihn auch wirklich interessieren. Dafür ordnet das Programm der Person 60 Kriterien wie ihren Ort zu. Das klappt umso besser, je mehr der Besucher klickt. Kommt jemand durch eine Google-Suche, weiß die Software schon über den Inhalt der Abfrage mehr über die Person. “Wir nutzen die Daten nur, um die Erfahrung des Kunden zu verbessern”, sagt Danny Hen. Andere versuchen sich wiederum daran, dass Online-Werbung genau die Zielgruppe erreicht. Nur die junge Mutter und nicht der Single soll die Windelwerbung auf dem Handy sehen. Sie alle arbeiten mit den Spuren, die jeder im Netz hinterlässt.

Mit den vielen Internetfirmen hat sich Israel zu einem begehrten Technologiestandort und einem Techniklabor für die Welt entwickelt. Das Land hat die meisten Start-ups je Einwohner, jene jungen Internetfirmen, die die Technologie von morgen auf den Markt bringen wollen. In den vergangenen fünf Jahren gaben Unternehmen 17 Milliarden Dollar für 300 israelische Start-ups aus. Facebook kaufte im vergangenen Jahr Face.com, einen israelischen Gesichtserkennungsdienst, für schätzungsweise einen hohen zweistelligen Millionenbetrag. Im Sommer hat Google dann Facebook im Kampf um den israelischen Kartendienst Waze ausgestochen. Für 1,3 Milliarden Dollar kaufte es das Unternehmen und garantierte den Gründern, dass Waze mit Zentrale in Israel bleibt.
Einer der großen Geldgeber für die jungen Firmen ist Uri Adoni. Er spannt wie selbstverständlich den Bogen vom Militär in die freie Wirtschaft seines Landes. Was immer passiert, eines ist klar: Die Mission muss erfüllt werden. Wenn der versprochene Hubschrauber die Soldaten nicht um 4 Uhr morgens abholt, muss der junge Truppenchef trotzdem die Aufgabe erfüllen. “Du musst das Problem lösen, und du musst es in Echtzeit lösen”, sagt Uri Adoni, selbst einst Kommandeur in der israelischen Armee. Unternehmensgründer erfüllen ihren Dienst wie Befehlshabende in einer Armee und improvisieren eben, wenn der Hubschrauber in der Not nicht kommt. Mit anderen Worten: Wenn das neue Produkt in sechs Monaten fertig sein soll, wird es auf den Punkt bis dahin programmiert und funktioniert vom ersten zugesagten Tag an.
Das digitale Wachstum des Landes liegt für Uri Adoni mit an der Armee, die tief verwurzelt in dem kleinen Land ist, das, umgeben von Feinden, am Mittelmeer liegt. Ihr Militär gilt als technologisch führend. Den exzellenten Computerumgang lehrt die Armee ihren Soldaten ebenso wie Selbstvertrauen und Führung.

Ob Gesichtserkennung oder Navigationshilfe: Auch die Start-ups sind oftmals technologiegetrieben. Wenn Barack Obama sich vor dem Eiffelturm eine rote Getränkedose an den Mund hält, erkennt jeder, dass der amerikanische Präsident gerade in Paris Cola trinkt. Auch der Computer versteht diesen Zusammenhang, wenn er weiß, wie Gesichter, Gebäude und Güter aussehen. So macht es Cortica, ebenfalls ein Start-up aus Israel. Deren Computerprogramm wertet fortlaufend Bilder aus dem Internet aus und ordnet diesen Stichworten zu (wie Obama, Eiffelturm, Cola). Damit lassen sich Fotos unter anderem automatisch einem Text zuordnen (wenn dieser etwa Obama in Paris behandelt).
Israel hat weder Rohstoffe noch viel Industrie, aber mehr als 3500 Start-ups. Die Investition von Wagniskapital wie das von Adoni ist zweieinhalbmal so hoch wie in den Vereinigten Staaten – gemessen an der Bevölkerungszahl. Auch Europa und China schlägt das israelische Techniklabor um Längen. Während junge Israelis Firmen gründen, gehen Ingenieure in Deutschland lieber in die Großkonzerne. Autohersteller und Industrieunternehmen bieten ein festes Gehalt und den leichten Aufstieg.

Jedes Jahr gründen Israelis 500 weitere Start-ups. Wibbitz erstellt aus längeren Artikeln automatisiert kurze Videos, in denen eine Zusammenfassung zu hören und passende Fotos zu sehen sind. 12Mass erleichtert Firmen die Kommunikation in sozialen Netzwerken: Es ordnet Einträge gebündelt an und zeigt die besten Antwortmöglichkeiten – aus dem, was in ähnlichen Fällen geschrieben worden ist.
Stephan Scherzer sieht in Israel eines der Forschungszentren für führende Technologieunternehmen. Dabei kennt er auch die amerikanische Start-up-Szene nahe San Francisco, wo er vor drei Jahren noch gearbeitet hat. Jetzt ist er Hauptgeschäftsführer des deutschen Zeitschriftenverlegerverbandes. Sein Verband hat 2013 zum Israel-Jahr ausgerufen. Auf einem Niveau mit Amerika sieht er die israelische Technikszene. “Die Austausch- und Geschäftsmöglichkeiten sowie die Produkte und Services der Start-ups für die Verlagsbranche sind dort ebenso interessant wie im Silicon Valley”, sagt Scherzer.
Immer auf der Suche nach der gewinnbringenden Idee bleibt der Wagniskapitalfonds Jerusalem Venture Partners, für den Uri Adoni als Partner arbeitet und der über 900 Millionen Dollar verfügt. In Jerusalem arbeiten die Start-ups des Fonds über mehrere Gebäude verteilt. Adoni läuft auf dem Weg zum nächsten Gründer von einem der weißen Häuser hinüber ins nächste Haus. In einem Großraumbüro hängen berühmte Filmplakate: Kill Bill, King Kong, Kick Ass.
Adoni leitete die Geschäfte von Microsoft in Israel und war Partner der Werbeagentur Leo Burnett in Israel. Jetzt kümmert er sich um Firmen wie Wishi, in das Jerusalem Venture Partners 1,2 Millionen Dollar gesteckt hat. Deren Nutzer können ihre echte Kleidung in einem virtuellen Kleiderschrank mit jedermann teilen. Und die Gemeinschaft kann einem raten, was anzuziehen ist. Wer Hilfe in Kleidungsfragen sucht, gibt einfach an, ob der Stil für einen Geschäftstermin, ein Essen oder ein heißes Date passen soll. Geld verdienen will das Jungunternehmen mit virtuellen Gütern im Netzwerk und besonders an der Modeindustrie, die Werbung schaltet oder einen Anteil abgibt, wenn echte Kleidung im Netz gekauft wird. Wie wird aus einer großen Idee eine große Firma? “Es kommt auf die Mannschaft und deren Leidenschaft an, der Plan ändert sich”, sagt Uri Adoni. “Wer eine Firma gründet, um Geld zu verdienen, wird es nicht schaffen.”

Die Größe Israels mit acht Millionen Einwohnern bringt es mit sich, dass neue Unternehmen gleich international denken und angreifen müssen. Tracx hat seine Zentrale inzwischen in New York. Für Geburtshilfe sorgt der Staat, der junge Internetfirmen finanziell bezuschusst und dafür um die 40 Millionen Euro im Jahr ausgibt. Auch die Gesellschaft fördert das Ausprobieren. “Wer mit einem Start-up scheitert, gilt nicht als gescheitert”, sagt Uri Adoni. Nächstes Mal haben diejenigen mehr Erfahrung und damit sogar Pluspunkte.
Schließlich sind nur wenige Investitionen richtig erfolgreich. 700 bis 800 Start-ups schauen sich Jerusalem Venture Partners im Jahr an, in ein Prozent investieren sie, einige bleiben ohne Erfolg – aber eines im Jahr soll den Jackpot knacken. Seit 1993 hat der Fonds in Hunderte Firmen investiert. Mehrere Unternehmen sind an die amerikanische Technologiebörse Nasdaq gegangen; andere sind direkt aufgekauft worden. In den besten Fällen haben sie eine dreistellige Millionensumme oder gar mehr als eine Milliarde Dollar eingenommen. “Es braucht solche Homeruns”, sagt Adoni.
Sharon Weshler von Tracx durchsucht weiter die Einträge auf Facebook und Twitter. “So viele Menschen hören, was du sagst, und schauen, was du schreibst, aber wir sind die Guten”, sagt er. “Denken Sie daran, was böse Menschen damit machen können.” Er erwähnt kurz die Aufstände in Ägypten und wie diese mit über soziale Netzwerke organisiert wurden. Arbeitet Tracx auch für Geheimdienste? Wahrscheinlich ja, mehr verrät er nicht. Aber niemals würden sie dem Staatsapparat in Schurkenländern helfen.
Doch ob sich Ivo am Bahnhof nicht wundert, wenn eine Person auf ihn zukommt und genau weiß, dass er den Zug verpasst hat und was er im Internet geschrieben hat? Sorgen macht sich Weshler für den Fall nicht. Die Uhr kann er ja behalten und allein über dieses teure Geschenk würde er sich freuen. Der Rest wäre schnell vergessen.
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[…] Israel hat weder Rohstoffe noch viel Industrie, aber mehr als 3500 Start-ups. Im Techniklabor entstehen die nächsten Trends für das Internet und unser Leben. Auch Europa und China schlägt das israelische Techniklabor um Längen. Während junge Israelis Firmen gründen, gehen Ingenieure in Deutschland lieber in die Großkonzerne. Autohersteller und Industrieunternehmen bieten ein festes Gehalt und den leichten Aufstieg. “Wer mit einem Start-up scheitert, gilt nicht als gescheitert”, sagt Uri Adoni. Nächstes Mal haben diejenigen mehr Erfahrung und damit sogar Pluspunkte. (FAZ 24.2.15) […]