Brille auf und in eine andere Welt eintauchen: Im Silicon Valley tüfteln Filmemacher am Programm für die 360-Grad-Sicht.

Wenn Ben Kreimer zum Streifzug in die virtuelle Realität loszieht, setzt er sich einen Fahrradhelm auf. Auch im Gehen muss er dann den Helm auf dem Kopf lassen: Der Journalist hat diesen für 360-Grad-Aufnahmen präpariert, indem er vorne und hinten am Helm jeweils eine Videokamera montiert hat. Damit verfolgt er eine Demonstration in San Francisco, um dem Publikum später mit Aufnahmen in alle Richtungen seinen Blick auf den Protest zu zeigen. Oder er drückt einem hiesigen Baseballspieler vor dem Spiel eine eigens hergestellte Videokamerakonstruktion in die Hand, die er wieder aus mehreren Geräten zusammengebaut hat – damit kann der Zuschauer später den Gang des Sportlers durch das Stadion verfolgen.
Wer einen solchen 360-Grad-Blick sucht, sieht mit einer der neuen Videobrillen für die „Virtual Reality“ (VR) den Film direkt vor sich und kann sich mit den Aufnahmen bewegen. Wohin der Betrachter auch den Kopf dreht, er sieht jede Blickrichtung aus der Perspektive des Kameraträgers. Im Idealfall kann der Brillenträger sich fast so fühlen, als wäre er selbst dabei.
Kreimer bastelt an der Zukunft der Filmwelt – und die lässt er die Zuschauer mit 360-Grad-Perspektiven erleben. Damit mehr Menschen diese Ansicht erleben, braucht es die Filme, die er und viele andere eigens für die 360-Grad-Kanäle produzieren und die auch die amerikanischen Internetkonzerne Facebook und Google auf ihren Portalen verbreiten. „Die virtuelle Realität kommt jetzt in Gang“, sagt Jens Christensen, der drei Jahre nach der Gründung des VR-Anbieters Jaunt gerade die Geschäftsführung abgegeben hat. Das junge Unternehmen aus dem kalifornischen Palo Alto baut umfangreiche Aufnahmegeräte mit zwei Dutzend Linsen für die 360-Grad-Welt, arbeitet mit Filmstudios in Hollywood zusammen und verbreitet die Videos auch selbst. „Das Gefühl ist ganz anders“, sagt er. „Du kannst hier und gleichzeitig woanders sein.“
Christensen blickt dabei in die Gesichter europäischer und indischer Medienunternehmer, die auf einer Reise in die digitale Welt nach San Francisco gekommen sind. Deren Fahrt in Kalifornien organisierten der Weltzeitschriftenverlegerverband FIPP und der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ), der dazu diese Zeitung eingeladen hat. Wäre die virtuelle Realität schon fortgeschrittener, hätten sie womöglich zu Hause in Europa bleiben können, sich mit der Videobrille auf der Nase mit Unternehmern in San Francisco unterhalten können und würden dabei fast das Gefühl bekommen, in einem Raum zu sein. Christensen erwartet, dass sowohl die Anzahl als auch die Qualität der Aufnahmen rasch zulegen werden: „Im Jahr 2020 wird Virtual Reality ein wichtiger Markt mit Milliardenumsatz sein.“ Das Marktforschungsunternehmen Tractica erwartet einen Umsatzanstieg von 108 Millionen Dollar 2014 auf mehr als 21 Milliarden Dollar im Jahr 2020.

Neben den aufwendigen Filmen und den dafür notwendigen Aufnahmegeräten wird das Wachstum der Videobrillen entscheidend sein. Die Absatzzahlen sollen sich nach Schätzungen des Marktforschungsinstituts Gartner von hunderttausend verkauften Brillen im vergangenen Jahr auf mehr als 13 Millionen verkaufte Videobrillen im Jahr 2018 steigern. Tractica rechnet mit mehr als 200 Millionen verkauften VR-Geräten im Jahr 2020.
Neben Herstellern wie Samsung, Sony oder HTC mischt hier ebenfalls das soziale Netzwerk Facebook mit: Im März 2014 kaufte es Oculus für 2 Milliarden Dollar, deren Videobrille „Oculus Rift“ dieses Jahr erscheinen ist. „Stellen Sie sich vor, nicht nur Momente mit Freunden im Internet zu teilen, sondern ganze Erlebnisse und Abenteuer“, sagte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg zur Übernahme. Ein einfaches und günstigeres Gestell bietet Google an: Deren „Google Cardboard“ ist aus Pappe, in das sich das Smartphone stecken lässt.
Für die eigenen 360-Grad-Filme bastelt sich Ben Kreimer seine Aufnahmegeräte selbst zusammen und verwendet dafür neben einem Tonaufnahmegerät unter anderem ein Gestell aus einem 3D-Drucker und Kameras von Ricoh oder die Actionkameras von Go Pro, die auch Skifahrer, Snowboarder oder Surfer sich auf den Kopf setzen, um ihre Erlebnisse festzuhalten. Kreimer ist für das junge New Yorker Medienunternehmen Buzzfeed tätig. In San Francisco hat sich das Unternehmen ein kleines Labor eingerichtet: Im „Buzzfeed Open Lab“ erforschen fünf junge Menschen, was sich mit neuer Technik anstellen lässt. Kreimer widmet sich den neuen Möglichkeiten, Geschichten visuell zu erzählen. Neben den Filmen arbeitet er auch mit Drohnen, mit denen er dreidimensionale Luftbilder erstellt hat – von einer riesigen Mülldeponie in Nairobi und von einer der Felsenkirchen von Lalibela, die die Unesco zum Weltkulturerbe zählt. Baupläne für seine Kameramodelle stellt er frei zugänglich ins Internet. Die Nachbaukosten der einfachen Geräte liegen etwa zwischen 250 Euro und 2500 Euro.
Generell bauen viele Unternehmen ihre Videoangebote im Internet aus. Facebook spielt Livevideos ab, Google ist ohnehin mit seinem Portal Youtube dabei. Beide lassen auf ihren Plattformen 360-Grad-Filme abspielen. Auch der Aufstieg des Messengerdienstes Snapchat besonders unter jüngeren Menschen in Amerika hängt mit Videofunktionen zusammen, die jeden zum Regisseur machen.

Jaunt bietet seinen Zuschauern etwa den 360-Grad-Mitschnitt eines Konzerts von Paul McCartney an, in dem der Zuschauer den Blick von der Bühne auf den Musiker und das Publikum hat. Seit der Gründung im Jahr 2013 hat das Unternehmen mehr als 100 Millionen Dollar eingesammelt. Zu den Investoren gehören Google und Disney, die deutschen Unternehmen Axel Springer und Pro Sieben Sat 1 sowie die europäische Fernsehkette Sky. Gerade baut Jaunt zudem ein Gemeinschaftsunternehmen in China auf. Auch in Deutschland arbeiten Medien und Startups an den neuen filmischen Möglichkeiten. Hierzulande sollen laut dem Beratungshaus Deloitte, dem Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik (FIT) und dem Digitalverband Bitkom bis zum Jahr 2020 etwa 850 Millionen Euro in Anwendungen rund um Virtual und Mixed Reality investiert werden.
Für den Gang auf eine Demonstration, auf den Gipfel eines Berges oder zu einer großen Sportveranstaltung kann das Aufsetzen einer Videobrille bald ausreichen. Computerspiele, digitales Lernen, Architektur, Videotelefonie: Die Perspektiven der Virtual Reality reichen weit und betreffen viele Branchen. Im Geschichtsunterricht lässt sich so ein altes Wikingerschiff vor Augen führen oder das Leben im alten Rom nachempfinden. Vor dem Urlaub könnte der Tourist damit sein Reiseziel vorab betrachten und auswählen.
Im Silicon Valley erzählt ein Entwickler fasziniert von den Möglichkeiten, doch er ergänzt, dass sich keiner den Sprung von einer hohen Leiter in der virtuellen Realität traut, obwohl klar ist, dass er tatsächlich mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Wer den Blick in den 360-Grad-Film wirft, sieht seine tatsächliche Umgebung nicht mehr. Manche Ansichten bleiben auch unsichtbar: Mit der Brille auf der Nase kann der Betrachter den Kopf drehen und überallhin schauen, doch was im Rücken liegt, passiert im Verborgenen. Gefällt das alles der breiten Masse, oder sorgt das nach einer anfänglichen Begeisterung für Unwohlsein?
Ben Kreimer sieht, wie sich die Videowelt schon weiterdreht. Was wird die virtuelle Realität in den nächsten Jahren zeigen? „Wir werden zu einer Mischung aus Videos und computergenerierten Inhalten kommen“, sagt er. Der Weg geht in Richtung „Augmented Reality“ (AR). In der Videobrille sieht der Zuschauer dann nicht nur ein Spiel oder nur einen Film, sondern bekommt zusätzliche Informationen wie die Entfernung des Balls zum Tor in einer Fußballpartie, eine Wegbeschreibung aus seiner Sicht für den Gang durch die Stadt oder die Vorschau, wie neue Möbel in der Wohnung aussehen würden. Damit verschwimmt die virtuelle Realität mit der Wirklichkeit immer mehr.
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Tradition und Zukunft verbinden
Ich bin sehr gespannt, ob es Deutschland tatsächlich gelingt, bei den Geschäftsfeldern Virtual und Mixed Reality aufzuholen bzw. mitzuhalten. Noch reisen die Inder und Deutschen nach Sao Paolo… Der Sparte täte es gut, im kulturellen Europa, das auch noch zahlreiche kleine traditionelle Programmkinos hat, verankert zu sein.