Moskauer Monitor

Russische Justitia

Bild zu: Russische JustitiaDas moderne russische Rechtssystem fand in dem Chodorkowski-Prozess des Jahres 2004 zu sich, als erstmals in nachsowjetischer Zeit demonstrativ Steueroptimierungsverfahren, wie sie in der Geschäftswelt üblich waren, im Fall des Ölkonzerns Yukos selektiv kriminalisiert und mit mehrjährigen Lagerhaftstrafen geahndet wurden. Symbolischerweise ließ das Oberste Gericht in Moskau just in jener Zeit sein Hauptquartier an der Powarskaja-Straße renovieren und an dessen Westfront, zur Großen Rschewski-Gasse hin, eine überlebensgroße Statue der Justitia installieren, in der die Moskauer die politisch voreingenommene Rechtssprechung ihrer Heimat bekenntnishaft verkörpert sehen (siehe Foto). Der allegorischen  Figur fehlt die obligatorische Augenbinde. Statt mit dem begriffsscharfen Schwert ist sie bewaffnet mit einem Schild, der, geschmückt mit einem Reliefbild des heiligen Georg, eher als Sichtschutz taugt. Aufmerksamen Beobachtern fällt zudem auf, dass dessen Spatenform das Emblem des Staatssicherheitsdienstes FSB wiederholt und das heroisch trotzige Gesicht der Justitia mit ihrer pflegeleichten Bobfrisur mehr an eine Weltkriegspartisanin oder Komsomolzin gemahnt als an eine antike Göttin. Dass sie den bohrenden Fernblick samt Schutzschild gen Westen gerichtet hält, als drohe vor allem von dort Gefahr, zementiert diesen Eindruck nur.

Der griechisch-römische Bildkanon wurde auf ausdrücklichen Wunsch von Russlands höchsten Richtern abgewandelt. Seine Auftraggeber hätten ihm erklärt, die russische Themis könne keine Augenbinde tragen, weil sie alles sehe und alles wisse, sagt der Chefarchitekt des Renovierungsprojekts, Juri Milajew. Ohne Ansehen von Personen zu richten erscheint nach dieser Logik kurzsichtig. Entsprechend sammeln die Chodorkowski-Ankläger seit Anfang letzten Jahres bändeweise neues Belastungsmaterial, das nach Aussagen seiner Anwälte frühere Vorwürfe umformuliert, um seine in diesem Frühjahr theoretisch mögliche Haftentlassung durch einen neuen Prozess unmöglich zu machen. Die willkürliche Karzerstrafe, die Chodorkowski nach einem Interview für den russischen Esquire im Herbst 2008 erhielt, wurde für rechtmäßig befunden, mit der abenteuerlichen Begründung, der Gefangene habe einmal seinen Bewachern nicht ordnungsgemäß gemeldet, wie viele Mithäftlinge sich in seiner Zelle aufhielten. Auch als der Schriftsteller Eduard Limonow 2007 gegenüber dem amerikanisch finanzierten Sender Radio Liberty die Beobachtung vieler formulierte, kein Moskauer Gericht würde eine Entscheidung gegen die Interessen von Bürgermeister Luschkow fällen, schlug sich die scharfsichtige Justiz auf die Seite Luschkows, der den heiligen Georg im Stadtwappen trägt, und gab seiner Schadensersatzforderung an Limonow wegen angeblicher Rufschädigung statt.

Für den ehemaligen Presseminister Michail Fedotow versinnbildlicht der Schild der Justitia-Figur die vorrangige Aufgabe des russischen Rechtswesens, Angriffe und Kritik der Presse und der Bürger auf wichtige Staatsstützen mit dem Gummiparagraphen vom „Schutz der Ehre und Würde“ abzuwehren. Die legislative Reichweite des Schutzschilds wird derzeit noch durch eine erweiterte Definition des Begriffes von Vaterlandsverrat und Spionage vergrößert. Statt „feindseliger Tätigkeiten“, welche die „äußere Sicherheit des russischen Staates“ bedrohen, sollen demnach künftig schon „Handlungen, die der Staatssicherheit“ schaden, als Verrat gelten können. Und Spion ist schon, wer internationale Organisationen mit sicherheitsrelevanten Informationen versorgt statt ausländische wie bisher. Das allsehende Richterauge kann dann im Sammeln von Informationen über die Wirtschaftskrise oder Rekrutenmissbräuche durch internationale Presseorgane oder Stiftungen als Spionagetätigkeit erkennen. Immerhin wird der Würgegriff der russischen Gesetze durch ihre unvollkommene Befolgung ausgeglichen, wie schon der Schriftsteller Saltykow-Schtschedrin im neunzehnten Jahrhundert feststellte. Wo man fast jeden als Verräter oder Korruptionär belangen kann, bleibt, wer unauffällig mit dem Strom schwimmt, wahrscheinlich unbehelligt. Am Obersten Gericht legt man Wert auf die Feststellung, die russische Rechtssprechung schneide und schlage nicht. Sie haben hoffentlich bemerkt, so ein Sprecher des Rechtstempels, dass unsere Justitia ohne Schwert auskommt.

 

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