Die Kunst der Ukraine, die nicht, wie der östliche Nachbar, ein überdehntes Imperium zusammenhalten muss, wirkt russisch – aber mit menschlichem Gesicht. Selbst auf Ikonen des 16. Jahrhunderts, wo, der umgekehrten Perspektive treu, stilisierte Gebäude sich mit zunehmender Entfernung vom Betrachter verbreitern, haben die Heiligen einen stabilen Körperbau und blicken freundlich drein. Die gemalte Sozialkritik der ukrainischen Realisten ist weniger bitter als die der Russen, wie in Kiew das vorzügliche Nationale Kunstmuseum der Ukraine vor Augen führt. Wenn der Klassiker Mykola Pymonenko (1862 bis 1912) satirisch eine Kiewer Bauernhochzeit schildert, so erscheint seine den Festzug anführende Braut wegen ihrer neuen Fürsorgepflichten für die ausgelassene Verwandtschaft bedrückt, nicht wegen ihrer Armut oder patriarchalischer Unterdrückung. Vielleicht lag es an seinem ukrainischen Blick, dass der hiesige Sammler russischer Kunst, Fjodor Tereschtschenko (1832 bis 1894), der ein eigenes Museum hinterließ, sich die vielleicht schönsten russischen Porträtgemälde sicherte und so den legendären Moskauer Mäzen Pawel Tretjakow neidisch machte.
Das Haus besitzt gleich vier Bauernbildnisse von dem Initiator der Bewegung der Wandermalerei, Iwan Kramskoi (1837 bis 1887). Kramskois großformatiger Alter „Mina Moissejew“, der sich, mit Pferdezaumzeug über dem Arm, auf einen Stab stützt, verkörpert mit seinem charaktervollen, heiteren Gesicht die naturhafte Weisheit des Landbewohners. Der auf verschneitem Waldpfad mit brütendem Blick einherschreitende „Grübler“ (Soserzatel) veranlasste schon Dostojewski, in seinen „Brüdern Karamasow“ dem ungebildeten Muschik, der manchmal völlig eigene Ideen nicht nur fassen, sondern sich auch dafür aufopfern könne, einen Sonderexkurs zu widmen. Wie eine russische Antwort auf die Porträtkunst der deutschen Renaissance wirkt Kramskois lapidarer Porträtkopf eines alten ukrainischen Bauern (rechts), dessen Sorgen, Zweifel, Pläne allein auf dem in sich gekehrten und dabei höchst beredten Gesicht ablesbar sind.
Mein Lieblingsporträt, das mir hilft, die russische Weltwahrnehmung besser zu verstehen, ist das Altersselbstbildnis (oben links) von Nikolai Ge (1831 bis 1894). Als Stipendiat der Kunstakademie verbrachte Ge zehn Jahre in Italien, was ihn vor allem zu biblischen Szenen vor mediterraner Staffage inspirierte, von denen etliche auch im Kiewer Museum hängen. Die Fähigkeit zur religiösen Vision entspringt sicher dem Gefühl für die tiefe Leere um uns. Mit sechzig Jahren sah Ge im Spiegel, wie sein wie eine Landschaft durchfurchtes, von silbrigem Haargestrüpp umkränztes Gesicht im schwarzen Nichts langsam untergeht. Doch das Licht in seinem fragenden Auge zeigt, dass im Finstern noch das Raumschiff des Gedankens navigiert.