Auch früher schon wurde in ernsten Momenten in Russland klassische Musik eingeschaltet. Als 1982 Leonid Breschnew starb, merkte das Publikum, dass etwas Dramatisches passiert war, daran, dass das Radio Musik von Beethoven und Vivaldi sendete. Und als neun Jahre später die alte sowjetische Garde gegen Gorbatschow putschte, lief auf allen Fernsehkanälen „Schwanensee“. In historischen Prüfungszeiten gibt Überzeitliches Halt – dieser Regel eingedenk erbaut der Pianist Juri Rosum im Krisenwinter 2009 die Sinn suchende Elite mit einer Klassikkonzertreihe im Moskauer Nobellokal „Andreas“. Um halb zehn, da der Chopin-Eröffnungsabend beginnen soll, werden die eintröpfelnden Gäste – der zurückhaltend elegante Vorsitzende einer Straßenbaufirma, die hoffnungsvolle Schlagersängerin Kristina, eine adrette Werbechefin – von zwei Grazien in elfenbeinfarbenen Minikleidern begrüßt und an die Vierertische vor der Tribüne geleitet, wo sich normalerweise Jazz- und Rockgruppen produzieren, während die Hörer italienische, amerikanische oder japanische Delikatessen zu sich nehmen. Heute steht dort ein schneeweißer Flügel. Zur Einstimmung dröhnen Discoklänge aus den Boxen, und drei Bildschirme zeigen Kaleidoskopblumen, singende Popstars und tanzende Schönheiten. Allmählich füllt sich der Saal mit solariumsgebräunten Damen, von denen eine sich sogleich eine Wasserpfeife kommen und die langen, rauchschwarzen Fingernägel über deren Schlauch gleiten lässt. Dann nehmen indische Diplomaten, ein deutscher Geschäftsmann und ein hagerer Pope Platz. Um halb elf tritt die schöne Maria im türkisblauen, perlenbesetzten Abendkleid vors Instrument und kündigt den „Volkskünstler“, so der Ehrentitel, Juri Rosum an, der heute Walzer, Balladen, Etüden von Chopin spielen wird. Chopin habe übrigens am gleichen Tag wie „Jurotschka“, so spricht Maria den Pianisten zärtlich an, Geburtstag, am 22. Februar – bei zwei genialen Musikern könne das kein Zufall sein. Rosum, heute im weißen Leinenjackett, füllt mit den grollenden Klängen der ersten Ballade den Raum. Die Damen am Nebentisch unterhalten sich angeregt. Die Schlagersängerin ruft über Handy ihre Mutter an. Beim ersten Walzer entspannen sich die Mienen. Jetzt bekommt eine zweite Dame ihre Wasserpfeife. Die indischen Diplomaten schlürfen selig Cocktails. Nur der Pope blickt stumm und verstört in die Runde, bis weit nach Mitternacht die Klassik-Party endet.