Die russisch orthodoxe Kirche, die in den neunziger Jahren als zollbefreiter Importeur von Spiritus in die Schlagzeilen kam, versucht inzwischen, ihre gestiegene soziale Autorität auch für die Zivilisierung der nationalen Trinksitten zu nutzen. Rechtzeitig zur Wirtschaftskrise, die nur den Wodkakonsum und die Gewalttätigkeit anzukurbeln verspricht, brachte mit dem Segen des moskaunahen Dreifaltigkeitskloster des heiligen Sergius eine russisch-moldauische Firma einen Rotwein der Marke „Barmherzigkeit“ (Miloserdie) heraus. Der im heute ukrainischen Odessa abgefüllte Trank aus der Traubensorte Merlot, der das Gütesiegel „Kirchlich geweiht“ trägt, dient in den Kirchen, Seminarien und an der geistlichen Akademie des Klosters gottesdienstlichen Zwecken, verrät das Etikett. Ein begrenztes Kontingent werde darüber hinaus dem Einzelhandel zugeführt.
Die abgebildete Flasche stammt aus einem Lebensmittelgeschäft des Industriedorfes Schilowo im Landkreis Rjasan, wo sie hundertfünfzig Rubel kostet – das sind dreieinhalb Euro, also etwas mehr als die gleiche Menge Wodka. Die aufgeprägte Medaille verspricht dafür aber Sicherheit vor der in der Provinz erhöhten Gefahr, gefälschten Schnaps zu kaufen. Nach russischem Brauch genießt man geistige Getränke nicht in langsamen Schlucken, sondern stürzt sie, wie ein Medikament, in einem Zug herunter und wartet auf die Wirkung. Der liturgiefähige Tropfen ermuntert, unterstützt von betulichen, in verschnörkelter Kalligraphie gedruckten Trinksprüchen, zum bedächtigen Konsum. „Ruhm unserem russischen Volk und seinen berühmten Gästen!“ heißt es da. „Auf dass Glaube und Wahrheit heller als die Sonne leuchten!“ Wie um ihren bei trunkenen Auseinandersetzungen drohenden Missbrauch als Handwaffe zu verhüten, ist die Flasche mit Reliefkreuzen und dem Hinweis dekoriert: „Achtung! Dies Produkt ist mit christlicher Symbolik versehen und daher sorgsam zu behandeln!“