Was den Amerikanern ihr Kino, das ist den Russen ihr Wodka. Seit Ausbruch der Krise investiert der Durchschnittsrusse im Monat fünfzehn statt, wie vorher, zehn Prozent seines Einkommens in Alkoholisches zu Linderung jenes Stresses, den man in Vereinigten Staaten durch intensiven Kinobesuch bekämpft. Wodka heilt in Russland fast alle Krankheiten, von der Erkältung über Magenverstimmung bis zur Depression. Geschätzte neunzehn Liter reinen Alkohols lässt der Russe sich jährlich durch die Kehle rinnen, das meiste davon aus harten Getränken. Russen kaufen 14,3 Liter Wodka im Jahr – die Amerikaner kommen, wie die Deutschen, mit nur fünf aus. Außerdem wird im Westen das russische Nationalgetränk vor allem in Cocktails gemixt. Dafür trinkt man in Russland wenig Wein, der zumal in der Provinz als Damentrunk gilt und dessertsüß sein muss.
In Zeiten geschwächter Finanzpotenz florieren die illegalen Brenner. Der Marktanteil von Schmuggelware und Babuschkas Selbstgebranntem, der derzeit schon bei 43 Prozent liegen soll, wird, erwarten Experten, weiter steigen. Gegen den Preisrabatt für zweifelhafte Qualität kontern die offiziellen Marken mit literarischen Inhalten. Im Supermarkt der moskaunahen Kleinstadt Kolomna bekommt man für keine zehn Euro einen Liter Klaren, dessen Titel „Männliche Würde“ (Muschskoje dostoinstwo) beinahe wie ein Drehbuch klingt.
Die Schriftzüge „Echt männlich“ und „Nur nach oben“ verstärken die Ausdruckskraft des Titels, der im Russischen auch das männliche Körperteil bezeichnet. Für den Damenbesuch bekommt man im gleichen Regal für nur dreißig Cent einen halbsüßen Rotwein der Marke „Beichte einer Sünderin“ (Ispowedj greschnizy). Das Etikett liefert die Gebrauchsanweisung gleich mit: „Tu den ersten Schritt! Die leichtsinnige Schöne wird schnell ihr Kleid abstreifen. Wetten, dass sie abgefahren ist?“ Tatsächlich scheint Maria Magdalena, die sich knapp geschürzt dem Betrachter zuneigt, eher in Sünden- als in Beichtstimmung. Doch hoffentlich genehmigt sich ihr Kavalier aus lauter Durst auf Würde nicht ein Übermaß an „Männlicher Würde“, die schon so manchen Mann außer Gefecht gesetzt hat. Die von russischen Zechern am häufigsten an ihre Mitwelt gerichtete Frage lautet jedenfalls: „Hast du auch Respekt vor mir?“