Helmut Lachenmann, der deutsche Komponist, der die Welt der Geräusche kartographierte, ist in Russland eine Kultfigur. Dort schmückt sich eine ganze Reihe von um die 25 bis 35 Jahre alten Komponisten mit dem Namen des lebenden Avantgardeklassikers oder eines seiner Werke. Hinter der Maske „Kontrakadenz“ steckt Dmitri Kurljandski, Gründer und ideologischer Kopf der Gruppe „Soma“ (abgekürzt für „Materialwiderstand“). Kurljandski, dessen Stücke bei der Berliner „Märzmusik“ gespielt wurden, verehrt Lachenmann als Pionier, der die nichtkonventionelle Tonerzeugung erstmals systematisierte. Auch Kurljandskis „Soma“-Kollege Georgi Dorochow, der als „Helmut“ auftritt, fühlt sich von Lachenmann beeinflusst, ebenso wie die heute in Berlin lebende Komponistin Alexandra Filonenko, die sich „Accanto“ nennt. Für Wladimir Tarnopolski, bei dem Frau Filonenko, wie auch Dorochow, in Moskau studierte, führt eine Linie von Beethoven zu Lachenmann. Denn dieser gehe als Klangzerspleißer vor wie ein Baumeister, erklärte Tarnopolski in Neuhardenberg auf einer deutsch-russischen Gesprächsrunde über das Verhältnis der Neuen Musik der beiden Länder zueinander.
Unter der Regie von Tatjana Rexroth, der unermüdlichen Propagandistin russischer Kultur, diskutierten Jörg Widmann, der Dirigent Wladimir Jurowski, Lachenmann, Tarnopolski und der Musikkritiker Gerhard R. Koch (auf dem Foto von links nach rechts), bevor das Ensemble Modern, aber auch die deutschen Komponisten selbst in der Schinkel-Kirche ausgewählte Werke erklingen ließen. Die Russen, die auch in Beethoven vor allem den Rebell und Freigeist sehen, scheinen an Lachenmann freilich vor allem den Tabuverletzer zu schätzen. Wenn er angehenden Tonkünstlern Stücke des Deutschen vorspiele, berichtet Tarnopolski, sagten die ihm manchmal, das sei „nicht übel“, aber es gebe weit „Abgefahreneres“.
Lachenmann begegnet der russischen Musik, der er einen Hang zu „magischer Trunkenheit“ bescheinigt, mit freundlicher Reserve. Er achte die innere Folgerichtigkeit von Kulturen, beteuerte er. Doch Edisson Denissow, den wichtigsten „Westler“ in der spätsowjetischen Musik, dessen spätes Trio für Flöte, Fagott und Klavier das Konzert eröffnete, nennt Lachenmann einen Boulez mit russischer Seele, dessen Publikumsverträglichkeit mit einem Verlust an künstlerischer Wahrheit erkauft sei. Von seinen Russland-Besuchen in den achtziger Jahren entsann sich Lachenmann, dass auch die Musik der Dissidenten – von Schostakowitsch bis zu Schnittke und Gubaidulina – auf große Hörerkollektive zugeschnitten schien. Das sei den Zöglingen der zweiten Wieder Schule völlig fremd. Sein virtuoser Kollege Widmann gab sich hingegen für die russische Emphase durchaus empfänglich und charakterisierte die westeuropäische Spielweise als manchmal „flachbrüstig“. Da mahnte Lachenmann, da die Musik nun mal zerstückelt sei, zu einer affektlos anatomischen Denkweise. Der Ausdruck, den das erzeugen könnte, sei stärker als jede absichtsvolle Expression.
Das demonstrierte der großartige Cellist Michael Kasper mit Lachenmanns programmatischem Stück „Pression“, worin aus Randgeräuschen konventioneller Tonerzeugung – Knarzen, Krächzen, Sirren, Klopfen – eine klangliche Schwarzweißzeichnung von der Schattierungsgenauigkeit und Überdeutlichkeit einer Dürer-Graphik entsteht. Tarnopolskis „Eindruck-Ausdruck“ für Klavier und kleines Ensemble spürte sodann den Impulsen nach, die Einzeltöne zu Linien ausspinnen und Akkordgewitter provozieren lassen. Dialektische Motivarbeit, die dem Autor „deutsch“ vorkommt, strukturiert eine wild schwingende Bewegung. Dann intonierte Lachenmann selbst die sieben Klavierminiaturen seines „Kinderspiels“, wo Carmens „Habanera“ zur chromatischen Hänschen-Klein-Prozession zusammenschnurrt und Akkorde wie aus Forscherneugier wiederholt und modifiziert werden. Die hart erkämpfte Voraussetzungslosigkeit dieser Musik vergegenwärtigt das beinahe klaustrophobische Sensorium ihres Schöpfers für den Kerker aus Gemeinplätzen, in dem wir stecken.