In Moskau, das für seine gefälschten Denkmäler berühmt ist, befindet sich auch das GULag-Museum an einer Adresse, wo nie eine Haft- oder Hinrichtungsstätte war. Das Hinterhaus an der Petrowka 16, im Herzen der exklusiven Einkaufs- und Hotelgegend hinterm Bolschoi Theater, vergegenwärtigt auf zwei Altbauetagen das Leben und Sterben sowjetischer Zwangsarbeiter, die den großen Sprung der Industrialisierung unter Stalin trugen. Täglich außer Sonntags und Montags kann man hier für ein symbolisches Entgelt von einem halben Euro in die Atmosphäre des großen Terrors eintauchen wie ein eine Geisterbahn.
Für meinen vierzehn Jahre alten Neffen Ansgar, den in Russland die Kontraste von Pomp und Verwahrlosung beeindruckten, machte das Museum ein Stück Historie spürbar, das er nicht kannte. Den Pritschen gegenüber ist ein schummrig erleuchtetes Verhörzimmer mit Stalinikone unter der Decke nachgebaut. Die lebensgroße Häftlingspuppe, die mit starr geweiteten Augen vor dem Tisch des Untersuchungsführers steht, hat Blutspuren auf Gesicht und Kleidern. Am Ende des dunklen Korridors wirft man einen Blick in den Karzer, die Bestrafung innerhalb der Bestrafung. Das Opfer wird in ein ungeheiztes Betonloch gesperrt und bekommt nur zur Nacht einen Holzrost, um für ein paar Stunden zu hocken. Eine Woche Karzer kam einem Todesurteil gleich.
Ein Stockwerk höher folgt in drei Schauräumen die Sinnstiftung. An der Wand hängt eine große Karte der Sowjetunion, vom Netz der Arbeitslager durchzogen wie von Blutgefäßen. Der Stalinismus war ja, im Unterschied zum Nationalsozialismus, auch eine Entwicklungsdiktatur. Als Arbeitssklaven dienten zunächst vor allem Volksfeinde, Adlige, Kaufleute, Mittelbauern; dann auch deren Verwandte oder vermeintliche Sympathisanten. Die Vitrinen präsentieren Reliquien der Leidenswege, selbst gebastelte Löffel, behelfsmäßige Spaten, mit denen ganze Kanäle ausgehoben wurden, aus Massengräbern geborgene Gewehrkugeln. Doch es werden auch Einzelmärtyrer gewürdigt, etwa der adlige Offizier und Journalist Wladimir Antonow-Owsejenko, der sich 1917 zum Bolschewismus bekehrte und den Parteinamen „Schtyk“ (Bajonett) annahm. Antonow-Owsejenko verkörpert das Ideal der Treue zum Vaterland über alle Zickzackbewegungen der Historie. Der Spross einer Militärdynastie leitete die Erstürmung des Winterpalastes, war lange Jahre sowjetischer Diplomat und wurde bei den großen Säuberungen 1938 erschossen. Das Schicksal des 1937 erschossenen Chirurgen und Leiter der Moskauer Sklifossowski-Unfallklinik, Pawel Obrossow inspirierte seinen Sohn, den Akademiemaler Igor Obrossow, zu einem Passionszyklus, der einen Raum als Andachtsstätte dekoriert. Plakatgroße Bildcomics von Stalin, diabolischen Menschenschindern und ihren Opfern, die verhaftet, vergewaltigt, durch winterliche Wassergüsse in Eisskulpturen verwandelt werden, beschwören das GULag-System als krypto-christliches Golgatha der besten Teile des Volkes.