Moskauer Monitor

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Seine unlösbaren Probleme sind Russlands wahrer Reichtum. In dem ersten faktisch von den Geheimdiensten gelenkten Staat der Welt ist das

Russische Land-Art im Nationalpark Ugra

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Die Holz- und Reisigkunstwerke des russischen Land-Artisten Nikolai Polisski, die fester Bestandteil Moskauer Festivals geworden sind, entfalten ihren wahren...

Die Holz- und Reisigkunstwerke des russischen Land-Artisten Nikolai Polisski, die fester Bestandteil Moskauer Festivals geworden sind, entfalten ihren wahren Charme nur in der bescheidenen Idylle ihres Ursprungsorts, dem Nationalpark Ugra im Landkreis Kaluga. In den aus der Zeit gefallenen Flecken um das Dorf Nikola Leniwez (zu Deutsch: Nikola der Faulpelz), wo eine Flusssenke, ein Birkenwäldchen, ein Kornfeld und ein Stück Steppe aneinandergrenzen, zieht es zweimal im Jahr die Moskauer Kunstprominenz mit Gastkünstlern und ansonsten viele Familien mit Kindern. Auch ich nahm den Besuch meiner Nichte Taran und meines Neffen Ansgar, siebzehn und vierzehn Jahre alt, zum Anlass, eines schönen Sommertages mit ihnen die 220 Kilometer in Richtung Südosten zu fahren, damit Polisskis knorrige Konstrukte ihnen die Poesie der hiesigen Natur nahe bringe. Ansgar war freilich mindestens ebenso von den russischen Straßen nach Ugra begeistert, die streckenweise nur aus Schlaglöchern bestanden, weshalb Hin- und Rückweg jeweils vier Stunden in Anspruch nahmen.

Bild zu: Russische Land-Art im Nationalpark Ugra

Seit dem vergangenen Krisenwinter begrüßt auf dem Feld vor der Einfahrt ins Dorf eine hölzerne Aussichtsplattform in Gestalt eines mächtigen Stiers die Besucher. Sein Konstrukteur Wassili Sschtschetinin hat das goldene Kalb von der Wallstreet ins organisch urrussische Baumaterial übersetzt, um dem Boom-Tier seine ältere Bedeutung als Symbol von Bodenständigkeit und Geduld zurückzugeben. Von hier fällt der Blick auf eine Hauptattraktion des Parks, den wuchtigen Turmstumpf aus Weidenruten, an dem Polisski und seine Mannen schon mehrere Jahre flechten. Seit das Bauwerk unter dem eigenen Gewicht zur Seite gesackt ist, hat es an Charakter nur gewonnen. Die hölzerne Häkelfassade macht auf der einen Seite eine Grimasse, findet Taran. Die andere mit den Stützdiensten wirkt wie gotisches Mauerwerk.

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Der Stier selbst blickt auf ein Buchweizenfeld, wo der Moskauer Architekt Alexander Brodsky ein zylindrisches Bretterhaus namens „Rotonda“ erbaut hat. Zwei Aussichtsplattformen über einem Erdgeschoss, das mit vielen Zimmertüren unterschiedlicher Höhe und Form verrammelt ist, vergegenwärtigen, wie dieses große Land Bewohner eng zusammen pfercht, aber auch lehrt, sich im Freien zu Hause zu fühlen. Ansgar und Taran finden das „Haus über dem Wald“ von Anna Schtschetinina gemütlicher.

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Eine besondere Attraktion für alle Russlandfahrer sind die Toiletten. Der Landschaftspark Ugra bietet zahlreiche Variationen zum Thema, Unterstände aus Weidenruten, Birkenstämmen, mannshohe, zu menschlichen Silhouetten zurechtgesägte Bretter, die einen schneckenförmigen Zaun um die Sickergrube bilden, als stünden hier Bedürftige Schlange. Doch selbst ein Hochsitz hatte, wie Ansgars Inspektion ergab, vorige Besucher zu großen Geschäften inspiriert – inspiriert offenbar auch vom russischen Jargonspruch: „Lutsche net krasotý /tschem nasrat‘ s vysotý!“, einem Verdauungsrückstand sozialer wie geographischer Erniedrigung.

Taran hatte es das von unzähligen Bohrlöchern zersiebte Haus namens „Verschlag“ (sarai) angetan. Es lässt seine Insassen am Regen teilhaben und umgibt sie bei schönem Wetter mit einem nach Holz duftenden Sternenhimmel.

Der trockene Sandstreifen am Parkrand wurde von Polisskis Werkstatt zur „Imperiumsgrenze“ ernannt und durch eine Allee aus naturkrummen Holzstelen markiert. Die Totempfähle huldigen der Vergänglichkeit von Russlands materieller Zivilisation. Einige maskieren sich durch Andeutungen von Kapitellen als Säulen. Die meisten sind mit Steighölzern gespickt, wodurch die Imperiumsgrenze wie ein Kakteen-Friedhof aussieht. Den Schwarm von Doppeladlern, dem Wappenvogel des russischen Staates, der sich auf ihnen niedergelassen hat, entlarvt die volkstümlich grobe Schnitzweise als Horde Geier, die auf ihre letzte Beute wartet.

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