Die schleichende Wiederkehr des Stalinkultes wird in der Moskauer U-Bahn schon zum Menetekel. In der einem Tempel ähnelnde Eingangshalle der Metrostation Kurskaja prangt, seit sie im Sommer nach gut einem Jahr Renovierungsarbeiten wiedereröffnet wurde, ein Hosianna auf Stalin aus der ersten sowjetischen Staatshymne auf dem säulengetragenen Achteckfries: „Uns hat Stalin großgezogen, in Treue zum Volk, er inspirierte uns zur Arbeit und zu Heldentaten.“
Der in majestätischen Antiqua-Lettern zitierte Spruch wurde von dem unlängst mit Pomp und Segenssprüchen von Patriarch Kyrill zu Grabe getragenen Kinderbuchautor Sergej Michalkow im Weltkriegsjahr 1943 ersonnen. Bürgerrechtler sind entsetzt. In der Metro stalinistische Hymnenverse zu restaurieren sei, als renoviere man ein Nazi-Monument mit Hakenkreuz und Hitler-Widmung, entrüstete sich Oleg Orlow, Leiter der Menschenrechtsgesellschaft „Memorial“. Der staatliche Bevollmächtigte für Menschenrechte, Wladimir Lukin, verlangt, die Huldigung an den Tyrannen, der einen bedeutenden Teil seines Volkes und dessen Genpool vernichtete, wie Lukin sich ausdrückt, wieder zu entfernen. Doch Metro-Direktor Dmitri Gajew behauptet, man habe nur den Originalzustand der 1950, drei Jahre vor Stalins Tod, eröffneten Station und wieder hergestellt, und will das sogar als Argument nutzen, um die Metro auf die Unseco-Liste des Weltkulturerbes zu bringen. Es fehle allein, so Gajew, die Stalinstatue in der erleuchteten Apsis. Die wurde während der Abrechnung mit dem Personenkult unter Chruschtschow demontiert und ist seither verschollen.
Direktor Gajew wird jedoch von einem damals aufgenommenen Foto widerlegt. Ursprünglich war unter der Kuppel, beschirmt von volkstümlichen Heldenstatuen, die Siegerkränze herabreichen, der ganze Hymnenrefrain zu lesen, der so beginnt: „Durch Gewitter hindurch schien uns die Sonne der Freiheit, und der große Lenin erleuchtete unseren Weg“. Erst dann schließt sich die Würdigung Stalins an.
Als Kultfigur war der Generalissimus zunächst ja als Führer auf dem leninschen Marsch in die lichte Zukunft des Sozialismus legitimiert. Freilich wurde schon zur späten Sowjetzeit der Sieg im Zweiten Weltkrieg für die Bürger der Sowjetunion zur einzig konsensstiftenen Errungenschaft ihres Staates. Der aktuelle Stalinkult freilich verherrlicht allein den Mobilisationsstaat, den teuer erkauften Sieg, enthusiastische „Arbeit und Heldentaten“, aber ohne Lenin, ohne Aussicht auf Sozialismus. Da wirken die von oben dargebotenen Kränze wie historische Rettungsringe.
In der Metro-Halle wird viel fotografiert und gekichert. Jüngere Leute finden es cool, dass ihre Geschichte wieder wichtig ist. Die polierten Marmorwände sind verziert mit haushohen Zeremonialschwertern, deren Klinge mit Prägesiegeln zu Ehren wichtiger Verteidigungsschlachten geschmückt ist: Moskau, Sewastopol, Leningrad. Bei Stalingrad stehen die ersten sechs Buchstaben plump hervor. Sie wurden auf die in den fünfziger Jahren zu Wolgograd umgewandelte Inschrift einfach aufgeschmiedet. Ein älterer Mann freut sich, dass sogar der seinerzeit ebenfalls wegredigierte Kampfruf „Für die Heimat, für Stalin!“ zurückkehrte. Allerdings sind die eingravierten Buchstaben schief und krumm, sie stammen offensichtlich von einem eiligen Bastler. Unter Stalin, der viele Metro-Ingenieure wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Baumängel wegsäubern ließ, wären die Verantwortlichen für solche Schlamperei längst nicht mehr am Leben.