Michail Pletnjow, der Pianist und Dirigent mit Pilotenschein, ist mit seinem Russischen Nationalorchester auf der Problembühne des Moskauer Bolschoi Theaters bravourös gelandet. Als Saisonauftakt bestritt Pletnjow mit dem von ihm als erstes russisches Privatorchester gegründeten, heute vielleicht interessantesten Klangkörper seines Landes ein einwöchiges Festival in dem künstlerisch führerlosen Musiktempel. Die Konzertperlenschnur, die im Bolschoi zur festen Institution werden soll, umkreiste diesmal Pletnjows Lieblingskomponist Tschaikowsky, dessen ganz unsentimentale Frische er auf dem Klavier so kristallin zur Geltung bringt. Dieses Jahr wurde das Nationalorchester, das trotz zahlreicher Auszeichnungen chronische Finanznöte litt, zu seiner eigenen Sicherheit verstaatlicht. Dennoch entfalteten sich am Eröffnungsabend Tschaikowskys fünfte und sechste Symphonie unter Pletnjows Taktstock so fragend und, bei aller Filigranzeichnung, gedankenverloren, als entstehe die Musik gerade erst. Das federnd geführte Orchester mit seinem charakteristisch dunklen Streicherglanz besticht, statt mit Farbvaleurs, durch konstruktive Gespanntheit.
Höhepunkt des Festivals war die konzertante Aufführung der „Zauberflöte“ von Tschaikowskys Lieblingskomponist Mozart, wofür Pletnjow eine deutsch-englische Solistenmannschaft nach Moskau holte. Der Dirigent, der alle gesprochenen Dialoge gestrichen hatte, ließ die Gesangspartien wie zusätzliche Orchesterstimmen aus dem Instrumentengeflecht herauszuwachsen. Dabei schien jede noch so exzentrisch virtuose Arie aus dem natürlichen Sprechimpuls zu entstehen. Der Liebling des Publikums und Pletnjows, die deutsche Koloraturdiva Simone Kermes (siehe Fotos), haucht als Königin der Nacht ihr erstes „Oh zittre nicht“ kühl wie ein Oktobermorgen, fährt ihre Schmeichelattacke („ein Jüngling so wie du“) liedgesanglich und tückisch schlicht, um mit den nachfolgenden Spitzentönen wie mit Dolchen zielgenau und furchterregend zu jonglieren.
Pletnjows „Zauberflöte“ ist von aller Betulichkeit einer zweiten Kindheit frei. Die phänomenale Sopranistin Lucy Crow intoniert die Pamina in einer geschmeidigen Legatolinie mit frappierend kontrastreicher Artikulation. Die ersten Takte klingen greinend wie ein bockiges Mädchen („Oh welche Marter, welche Pein“), doch sogleich schlägt sie um in ein süß kehliges Aufrichtigkeitsregister („Sie stirbt vor Gram ganz sicherlich“). In der Todesarie führt sie die Stimme inbrünstig rezitativisch wie einen feinen, auch Pausen stumm überbrückenden Goldfaden. Tilman Lichdi singt den Tamino frisch und herb, ohne Märchenprinzenattitüde. Auch Stefan Genz‘ Papageno klingt männlich sportlich. Dies ist eine Zauberflöte für Erwachsene. Auf den Kritiker der „Rossiskaja gaseta“ wirkten Simone Kermes‘ Koloratur-Eskapaden sogar wie die schamanische Selbstumwandlung in einen wilden Vogel.
Das zweite Großereignis war die Aufführung von Edvard Griegs Schauspielmusik zu Ibsens „Peer Gynt“, dem norwegischen Anti-Faust. Pletnjows großartige erste Geige Alexej Bruni, im Nebenberuf Dichter, hatte das Drama zu einem Erzähltext über den unverbesserlichen Aufschneider und gnadenlosen Selbstverwirklicher eingedampft, der, von Schauspielveteran Wassili Lanowoi mit charmantem Sarkasmus vorgetragen, zu den stimmungsvollen Orchesterstücken und flüchtigen Zwischenspielen den schönsten Kontrapunkt bot. Als aber die zwei Lieder der Solveig im norwegischen Original erklangen, schien der vollendet schlichte und zugleich grenzenlos sich verströmende Sopran der Lettin Inga Kalna auch jene Wolkenbänke herbeizurufen, nach denen der Dirigent sich manchmal sehnt.