Moskauer Monitor

Moskauer Monitor

Seine unlösbaren Probleme sind Russlands wahrer Reichtum. In dem ersten faktisch von den Geheimdiensten gelenkten Staat der Welt ist das

Russische Ferien: Ikonentrost für ein unehrliches Land

| 0 Lesermeinungen

Russland wirkt so erfrischend auf seine Gäste, weil es daran erinnert, dass Chaos normaler ist als Ordnung. Meine Nichte Taran (16) und mein Neffe Ansgar (14)...

Russland wirkt so erfrischend auf seine Gäste, weil es daran erinnert, dass Chaos normaler ist als Ordnung. Meine Nichte Taran (16) und mein Neffe Ansgar (14) zogen dieses Jahr einen Ausflug in den wilden Osten dem Italienurlaub ihrer Familie vor, obwohl sie über den russischen Polizeiterror und die russischen Toiletten erschreckendes gelesen hatten. Ansgar war sogleich vom Kontrast zwischen dem Pomp der Kathedralen, Luxuskaufhäuser, Paläste einerseits und der Verwahrlosung der meisten übrigen Gebäude andererseits beeindruckt. Als Hauptsehenswürdigkeit erwiesen sich für den Hamburger Jungen jedoch die oft hoffnungslos überfüllten, unübersichtlich geführten, zumeist dürftig beschilderten Landstraßen, auf denen man immer wieder an defekten oder gerammten Autos vorbeifährt, und die gesäumt werden von blumengeschmückten Gedenkkreuzen zu Ehren von Autofahrern, die in diesem Graben oder an jenem Baum ums Leben kamen. Dass die Moskauer Polizei frech über Bürgersteige kurvt, wirkte auf die jungen Leute eher erheiternd. Ihr russischer Vergil Valeri führte ihnen dann in seinem Heimatkaff Schilowo im Landkreis Rjasan die fast nur aus Schlaglöchern bestehenden Dorfstraßen vor als seien sie ein besonderer Leckerbissen. Beinahe stolz präsentierte Valeri ihnen die Stallsiedlung am Ortsrand. Etwas dermaßen Verfallenes, war er überzeugt, würden sie so bald nicht wieder sehen.

Bild zu: Russische Ferien: Ikonentrost für ein unehrliches Land

Ansgars Schwester Taran, die eine Ausbildung als Arzthelferin macht, wunderte sich zunächst, dass in Russland weder Pfandflaschen noch Altpapier gesammelt noch Müll getrennt wird. Zur Sowjetzeit und kurz danach war das anders, berichtet die Tante. Zu Beginn der neunziger Jahre trug man noch Leergut und Makulatur zu speziellen Abgabestellen. Auf dem Dorf staunt Taran darüber, dass ein Elektriker hier vor allem die Aufgabe hat, die Stromzähler in den Häusern zurückzudrehen. Dies sei keine ehrliche Kultur, lautet Tarans vorläufige Diagnose. Zugleich ist das einfühlsame Mädchen gerührt von der Güte in den Augen der Menschen, deren Sprache sie nicht versteht.

Bild zu: Russische Ferien: Ikonentrost für ein unehrliches LandAuf dem russischen Dorf regiert der russische Selbstgebrannte. Dessen Genuss macht russische Seelen noch empfindlicher. Taran fällt aus allen Wolken, als Valeri wegen einer ironischen Bemerkung so beleidigt ist, dass er nicht mehr mit uns redet. Dass dies auch kein glückliches Land ist, merkt sie spätestens in der Ikonenabteilung der Moskauer Tretjakow-Galerie. Die finsteren Bilder mit den gespenstischen Figuren wirken vor allem bedrohlich, findet sie. Umso lebhafter empfindet sie mit jener im späten 15. Jahrhundert gemalten Madonna, die sich mit ihrem gläsernen Blick vor der Welt geradezu verschließt. Taran erinnert sich sofort: „So einen Patienten hatten wir auch einmal.“


Hinterlasse eine Lesermeinung