Als die Tage des Haydn-Jahres schon leicht zu zählen waren, führte ein Konzert des Studios für neue Musik im Moskauer Konservatorium vor, wie Ende des 18. und des 20. Jahrhunderts alternde Komponisten in Deutschland und Italien die ihnen enteilende Zeit vergegenwärtigen. Zur Eröffnung erklang der langsame Satz aus Haydns 101. Symphonie „Die Uhr“, eine eigentlich barbarische Vivisektion, wie der künstlerische Leiter des Zentrums für zeitgenössische Musik, Komponist Wladimir Tarnopolski, zugab.
Seine einzige Entschuldigung sei, so Tarnopolski, dass nur hier jene metronomartige Terzenfigur durch die Streicher und Holzbläser geht, der das Werk seinen Namen verdankt. Haydn war mehr als sechzig Jahre alt, als er dieses zugleich anmutige und erbarmungslose Ticken komponierte, das, nachdem der Elan des ersten Satzes verebbt ist, die Ruhe des Andante skelettiert wie das Liniennetz den Rechenpapierbogen. Der Vater der neuzeitlichen Musiksprache hinterließ damit ein heiter resigniertes Schallbild des menschlichen Lebens. Von der beschwingten Promenade des Hauptthemas, der konfliktreichen Durchführung, dem „Neuanfang“ in der Nebentonart, der großspurigen Triolenvariation wird das Motiv vorübergehend verdrängt, meldet sich aber stets zäh zurück, wie um einen zu mahnen, die knappe Zeit möglichst nicht unnütz zu verplempern.
Welch ein Kontrast zu Schostakowitsch, der im gleichen Alter wie der Haydn der Uhrensymphonie seine Sonate für Violine und Klavier op. 134 schrieb, worin ein Uhrpendelmotiv im „Feuerwehrintervall“ der Quarte das sinnlose Fortschreiten der Zeit spürbar macht. Die Ostinatofigur verfolgt einen über alle drei Sätze und scheint Grimassen zu schneiden. Zuerst erklingt sie auf dem Klavier mit dem darunter liegenden Halbton, klirrend und wie von einem Geräuschnebel umgeben. Im Scherzo verdoppelt sich ihr Tempo zu höhnischen Tanzsprüngen. Im Finalsatz wird das Motiv kontrapunktisch umspielt wie bei einer Choralprozession. Schostakowitschs Zeit scheint selbst aktiv zu sein und muss erlitten werden.
Doch im Moskauer Konservatorium intonierte nach Haydn die Flötenvirtuosin Marina Rubinstein Salvatore Schiarrinos Solostück „Bergsons Uhr“, das eine den Dingen immanente Zeit inszeniert. Das 1999 entstandene Werk gleicht einem Ballett aus Vogelrufen. Mit scharf ins Mundstück geblasenen Attacken wird ein langsames Taktmaß markiert. Dazwischen pochen, zunächst pianissimo, wie T-Laute artikulierte Pulse, die abgelöst werden von einem weit ausschwingenden Pfeifton, gefolgt von einer melodischen Miniatur. Schiarrino, der 52 Jahre alt war, als er diese Uhrenmusik schrieb, verlieh jedem noch so kargen Laut durch die aggressive oder weiche Artikulation beim Einsaugen oder Ausstoßen von Luft einen plastischen Körper, der sich selbst sein Maß gibt wie Zahnpasta, die aus der Tube gedrückt wird. Es ist ein vegetatives Zeitgefühl, das auch aus dem gekerbten Holzstab des altrussischen Bauernkalenders spricht. Als Komponist empfinde er ähnlich, bekennt Tarnopolski, seiner Musik liege die Atembewegung zugrunde, mit der das Leben beginnt und endet. Was für eine Zeitwahrnehmung haben Sie?